Die Betriebsversammlung 21-30 (Rohfassung)

“Ich muss los”, sagte Sebastian Markus zu seiner Kollegin, die kurz über ihre zwei Monitore hinweg blickte und teilnahmslos “bis morgen” sagte. Sonja Zand hatte ihn eben angerufen und ihn aufgefordert, seine Beschattung aufzunehmen, denn Olaf Graf und Gregor Bauer würden in diesem Moment Feierabend machen. Sie erwarte stündlich einen Bericht, hatte sie ihn wissen lassen, und darüber hinaus immer dann, wenn sich etwas Wichtiges ereignete.

Sebastian fuhr mit dem Lift hinunter. Als sich die Tür des Fahrstuhls öffnete und er schon hinaustreten wollte, sah er durch die große Eingangstür, wie sich Gregor Bauer und Olaf Graf gerade entfernten. Schnell trat er einen Schritt zurück in den Aufzug und drückte sich rücklings gegen dessen Seitenwand. Ein kräftiger Stoß Adrenalin flutete seinen Körper. Sebastian begann Gefallen an seiner Aufgabe zu finden. Er griff zu seinem Smartphone. “Zielpersonen verlassen SCHOW. Verfolgung aufgenommen”, tippte er und schickte die Nachricht an Sonja Zand.

Gregor und Olaf warteten an der Straßenbahnhaltestelle auf die nächste Bahn. Sie unterhielten sich über die Vorgänge in der Firma und was sie wohl noch zu erwarten hätten. Sebastian beobachtete die beiden von der anderen Straßenseite aus und fragte sich, wie er zur Haltestelle kommen sollte. Die Fußgängerampel konnte er nicht benutzen, denn dann hätten ihn die beiden sofort gesehen. Er entschloss sich daher, der Straße noch etwa hundert Meter zu folgen, um sie dann dort zu überqueren. Den Ort, den sich Sebastian hierfür gewählt hatte, lag unmittelbar hinter einem kleinen Gefälle in einer Kurve, wodurch die Straße schlecht einsehbar war. Zudem war auf der gegenüberliegenden Seite die Straßenbahnhaltestelle mit einer kleinen Brüstung versehen, die er zu übersteigen hätte. Es kam, wie es kommen musste, als Sebastian die Straße schon fast überquert hatte, kam ein Auto und hupte, wodurch er die volle Aufmerksamkeit aller Wartenden hatte, während er über das Geländer kletterte.

“Sieh mal, was unser Kollege da macht”, sagte Gregor zu Olaf und wollte schon die Hand zum Gruß heben.

“Lass mal”, sagte Olaf und drückte Gregors Arm nach unten. “Auf den habe ich jetzt überhaupt keine Lust. Das ist einer von Schmidts Schleimern.”

“Stimmt eigentlich”, antwortete Gregor und während sich sämtliche Wartenden in Richtung Sebastian Markus’ drehten, drehten sich Gregor und Olaf in die andere Richtung und taten so, als hätten sie ihn nicht bemerkt.

“Gerade nochmal gut gegangen”, dachte Sebastian bei sich, als er die beiden mit dem Rücken zu ihm stehen sah. Kurz darauf kam die Straßenbahn. Sebastian Markus setzte sich in den hinteren Teil des Wagens, so, dass er seine ‘Zielpersonen’ zwar beobachten konnte, er aber gleichzeitig das Gefühl hatte, die Distanz sei groß genug, um nicht deren Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. “Zielpersonen nehmen Straßenbahn in Richtung Innenstadt”, ließ er Sonja via Textnachricht wissen. Zu seiner Überraschung erhielt er eine Nachricht zurück. “Zielpersonen im Blick behalten. Erbitte Information über Ausstiegshaltestelle”, stand da. Er ärgerte sich. Er brauchte keine Anweisungen und von Sonja schon zweimal nicht. “Ich weiß schon, was ich tue. Blas lieber Roland den Schwanz und halte ansonsten die Fresse”, schrieb er, löschte die Nachricht dann jedoch wieder, ohne sie abzuschicken. Stattdessen schrieb er “Zielpersonen bei Straßenbahnfahrt” schickte es ab, machte ein Foto von Olaf Graf und Gregor Bauer, wie sie in der Straßenbahn saßen und schickte es hinterher.

“Der Kollege scheint ein neues Handy zu haben”, informierte Gregor Olaf, der mit dem Rücken zu Sebastian Markus saß. “Zumindest fummelt er dran rum, als wäre es neu. Er schenkt ihm seine ganze Aufmerksamkeit”, meinte er grinsend.

“Prima!”, sagte Olaf. “Dann übersieht er uns hoffentlich und quatscht uns nicht voll. Die nächste müssen wir raus.”

“Zielpersonen verlassen Straßenbahn”, lautete dementsprechend die nächste Nachricht, die Sonja von Sebastian empfing. “Schreib doch wenigstens den Ort dazu, du Vollidiot!”, wollte sie zurücksenden, entschied sich aber anders und löschte die Nachricht wieder, ohne sie abzusenden.

Als Olaf wenig später in der Kneipe die Toilette aufsuchte, war er nicht schlecht erstaunt, als er dort in der hintersten Ecke des Lokals Sebastian Markus sitzen sah, der an seinem Handy rumfummelte und ihm ostentativ den Rücken zudrehte.

Nachdem er zurück war und neben Gregor platz genommen hatte, sagte Olaf: “Da drüben sitzt Sebastian.”

“Das ist aber ein Zufall”, meinte Gregor.

“Ich finde, das ist ein bisschen viel Zufall. Ich habe eher das Gefühl, er beobachtet uns. Lass es uns rausfinden und das Lokal wechseln.”

Gregor stimmte zu. Sie tranken aus, bezahlten und gingen.

Das Lokal, in das Olaf Gregor führte, lag in der Nähe, kaum fünf Minuten zu Fuß. Auf dem Weg dorthin sah sich Gregor mehrfach um, und in der Tat war Sebastian Markus immer zu sehen. Mal stand er an einem Zeitungsstand und blätterte in der aktuellen Ausgabe der Brigitte, mal schien er sich in einer Schaufensterauslage für Damenstrümpfe zu interessieren.

“Der verfolgt uns wirklich”, sagte Gregor.

“Mal gucken, wie lange”, erwiderte Olaf, grinste und öffnete die Tür zu einer Kneipe. Laute Musik drang ihnen entgegen. Abba wurde gespielt und das Lokal war zur Überraschung Gregors trotz der frühen Stunde gut gefüllt. Alles Männer in mittlerem Alter. Und zu seiner weiteren Überraschung schien Olaf hier gut bekannt zu sein. Die Bedienung, gut gebaut, Vollbart und rasierter Kopf, begrüßte Olaf mit Wangenküsschen und den Worten “Chérie, du hier? Wie immer? Und der junge Mann an deiner Seite? Was kann ich für den Schönes tun?”

“Auch ein Bier”, sagte Olaf.

“Was ist das denn hier für ein Laden hier?”, wollte Gregor wissen.

“Schwulenbar”, antwortete Olaf. “Mal gucken ob sich Sebastian hier rein traut.”

Es fiel Gregor wie Schuppen von den Augen, warum Olaf vorhin meinte, er sei immun gegen die Avancen von Sabine Müller.

“Zielpersonen betreten Tom’s Lounge”, schrieb Sebastian an Sonja.

Kurz darauf bekam er eine Nachricht von Sonja zurück. “Das ist eine Schwulenbar. Was machen die da drin?”

“Keine Ahnung! Schwänze lutschen?”, schrieb Sebastian zurück.

“Geh rein und finde es raus!”, kam unmittelbar die Antwort von Sonja.

“Ich gehe doch nicht in eine Schwulenbar! Spinnst Du?”

“Doch! Du gehst da rein und berichtest, was die da machen!”

“Sag mal, hast du sie noch alle? Was soll ich denn in einer Schwulenbar?”

“Beobachten, was da vor sich geht. Bilder machen. Alles was wir brauchen können, um die Betriebsversammlung zu verhindern.”

“Ich gehe da nicht rein! Niemals!”

“Ich bin die Einsatzleiterin und ich befehle dir, da rein zu gehen!”

Sebastian war kurz davor, sein Handy gegen die nächste Hauswand zu werfen. Bis hierhin war es alles ausnehmend spannend gewesen. Die Verfolgung von Olaf Graf und Gregor Bauer hatte ihm bis jetzt ausnehmend viel Spaß gemacht und er hätte sich gewünscht, sie im Auto fortsetzen zu können, um sie zu einer richtigen Verfolgungsjagd auszubauen. Bei welcher Gelegenheit dies der Fall hätte sein können, darüber machte sich Sebastian Markus keine Gedanken. Es wäre einfach toll gewesen, wie im Fernsehen. Er sah sich als seinen eigenen Serienhelden.

Aber jetzt in eine Schwulenbar zu gehen, das war wirklich zu viel. Das war so ziemlich genau das extremste Gegenteil von Heldentum, das er sich vorstellen konnte. Da grabschte ihn womöglich noch jemand an den Arsch. Was sollte er dann tun? Ihm eine reinhauen? In einer Schwulenbar? Weil er an den Arsch gegrabscht wurde? Seine Gedanken überschlugen sich und kreisten darum, dass er auf jeden Fall die Hand von irgendjemandem an seinem Hintern hätte, wenn er diese Bar betreten würde.

“ICH GEHE DA NICHT REIN”, schrieb er an Sonja.

“Warum denn nicht? Was muss ich tun, dass du da reingehst?”

Für Sebastian Markus war unmittelbar klar, in welcher Hinsicht er diese Frage zu verstehen hatte, nämlich als sexuelles Angebot. Doch er war im Moment in keiner Weise für irgendwelche Lockungen und Versprechen zu haben.

“Ich weiß doch, dass du ein richtiger Mann bist und keine kleine Schwuchtel. Dir kann da drin doch gar nichts passieren.” Dieser Satz, den Sonja ihrem eben gemachten Angebot hinterher schickte, traf schon eher den Ton, den es benötigte, um Sebastian dazu zu bewegen, seine Grenzen zu überschreiten.

“Klar bin ich ein richtiger Mann”, schrieb er zurück.

“Ja, da besteht bei dir gar kein Zweifel. Deshalb kannst du da auch reingehen. Da kann doch gar nichts passieren”, wiederholte sie sich.

Sebastian hatte das Gefühl, in eine Falle getreten zu sein.

“Gut, aber nur kurz”, schrieb er nach einigen Minuten Nachdenkens zurück.

“Du bist ein Schatz!”, schrieb sie und dann noch: “Immer schön mit dem Arsch an der Wand bleiben, sonst kriegst du noch was reingeschoben!”, geziert von einem grinsenden Smiley.

“Blöde Fotze”, tippte Sebastian auf seinem Handy, während er die Straßenseite wechselte. Er schickte die Nachricht in dem Moment ab, in dem er die Tür zu ‘Tom’s Lounge’ öffnete. Cindy und Bert besangen gerade Spanische Gitarrren und Sebastian war, als wären alle Augen auf ihn gerichtet, als er die Bar betrat. Ein gut gebauter Mann mit Glatze, Vollbart und weit aufgeknöpften Hemd, das eine imposante Brustbehaarung akzentuierend umrahmte, trat auf Sebastian zu, der die Faust in der Tasche ballte. “Was darf’s sein”, wurde er gefragt.

“Bier”, sagte Sebastian die Faust entspannend und bemüht, einen möglichst abweisenden Ton anzuschlagen. Er suchte nach Olaf Graf und Gregor Bauer. Die Bar war größer als von außen zu erwarten war. Sehr lang gestreckt, recht schummrig und schon jetzt sehr gut gefüllt. Und alle sahen hier recht ähnlich aus. Glatze und Bart war der vorherrschende Stil, alle sahen aus, wie Olaf Graf oder Olaf Graf sah aus, wie alle hier. Sebastian Markus war sich nicht sicher, wie das zu entscheiden sei. Er meinte, Gregor in der gegenüberliegenden Ecke zu erkennen. Sein Pferdeschwanz stach aus der Menge der haarlosen Häupter heraus. Nach einiger Überlegung entschloss sich Sebastian den Weg durch die Menge anzutreten, auch wenn er sich dabei der Gefahr aussetzte, dass ihm jemand an den Arsch griff. Er wollte aus geringerer Entfernung betrachten, was die beiden da trieben. Sie schienen sich mit drei anderen Männern zu unterhalten.

Sebastian postierte sich mit seinem Bier an einem Türrahmen im hinteren Teil der Bar. Von hier aus, war er kaum zu sehen, aber in einem Spiegel, der über der Bar hing, konnte er Olaf Graf und Gregor Bauer gut beobachten.

“Na, so früh schon auf Jagd? Ist aber noch nichts los da drin”, sagte ein Mann mit Glatze und Bart, der in Richtung der Schwingtür nickte, an deren Rahmen Sebastian lehnte.

“Was soll da drin los sein?”, fragte Sebastian zurück.

“Na ficken soll da drin los sein. Stehst doch wohl nicht zufällig am Darkroom, oder?”, sagte der Mann und stützte sich mit seiner rechten Hand am Türrahmen direkt neben Sebastian Kopf ab, während er den Daumen seiner Linken in den Hosenbund steckte. “Sollen wir rein? Darfst mir gerne einen blasen.”

Sebastian sandte einen Fluch in Richtung Sonja Zand.

In der Szenebar Loft unterhielten sich zu diesem Zeitpunkt Miriam, Julius und Caroline. Wolfram Tietz war es tatsächlich gelungen, Miriam völlig umzukrempeln. Allerdings war sie weniger in Sorge um sich und ihren Arbeitsplatz. Ihr Anliegen war das Fortkommen  des Praktikanten Julius George, mit dem sie seit Kurzem eine Affäre hatte, die sich in Richtung einer festen Bindung entwickelte, weshalb ihr sein Wohlergehen nun sehr am Herzen lag. Er hätte jetzt schon so viele Praktika absoviert, er hätte jetzt ein Recht auf eine feste Anstellung, war Miriams Position. Schmidt hätte Julius auch eine Festanstellung in Aussicht gestellt, doch das Vorhaben, einen Betriebsrat zu gründen, würde das jetzt durchkreuzen.

“Warum kann der Schmidt seine Versprechen nicht einlösen, wenn wir einen Betriebsrat gründen wollen?”, fragte Caroline, die den Zusammenhang nicht verstand.

“Weil es einen Einstellungstopp gibt. Der Betriebsrat wird teuer, sagt der Tietz. Da können keine neuen Leute eingestellt werden. Und Julius braucht so dringend eine Stelle. Der kann doch nicht den Rest seines Lebens Praktikum machen und nebenher in einer Kneipe arbeiten.”

“Du arbeitest nebenher noch in einer Kneipe? Wie schaffst du das denn?”, fragte Caroline sich Julius zuwendend.

“Die Alternative wäre Hartz IV. Mensch Caroline, ich bin jetzt Mitte zwanzig, ich will es alleine schaffen und nicht immer auf die Hilfe von anderen angewiesen sein. Ich habe doch eigentlich alles, Abitur, Ausbildung, inzwischen auch Erfahrung durch all die Praktika, meine Zeugnisse sind gut und überall wird einem was von Fachkräftemangel erzählt. Ich bin eine Fachkraft und bekomme keine Stelle. Mein Hobby ist inzwischen, Bewerbungen zu schreiben. Früher hatte ich auch mal andere Interessen, aber ich habe kaum noch Freizeit. Ich verbiege mich in jede Richtung und trotzdem läuft immer alles nur auf noch ein Praktikum oder einen Minijob raus. Das kann doch nicht sein!”

Julius erzählte, er arbeite an den Wochenenden und an zwei Abenden in der Woche in einer Kneipe, um damit den Luxus eines unbezahlten Praktikums finanzieren zu können. Seine Eltern würden ihm zwar von Zeit zu Zeit etwas zustecken, aber sie wären auch eher knapp, da sie sich ein Eigenheim zugelegt und sich dafür verschuldet hatten.

Caroline wusste nicht, was sie sagen sollte. So ganz grundlegend anders war es ihr nicht ergangen. Auch sie hatte nach ihrem Architekturstudium zahllose Bewerbungsschreiben verfasst und eine unüberschaubare Anzahl an Praktika absolviert, bis sie schließlich bei SCHOW GmbH als Kundenbetreuerin gelandet war. Ziemlich fachfremd zwar und auch in keiner Weise ihrer Qualifikation entsprechend, aber immerhin mal ein Job mit Arbeitsvertrag und ohne Befristung. Caroline wusste, wie sich Julius fühlte, und es tat ihr sehr leid. Aber sie sah auch, wie wenig diese Situation mit der Gründung eines Betriebsrates zusammenhing. Schmidt konnte sein Wort halten oder es brechen, gerade so, wie er wollte. Die Verbindung zum Betriebsrat schien eher instrumentalisierender Natur.

“Der Tietz und der Schmidt nutzen eure Angst nur aus, um was gegen die Gründung eines Betriebsrates unternehmen zu können”, meinte Caroline.

“Inwiefern?” Julius sah zunächst Caroline, dann Miriam fragend an.

“Ach komm, Julius, wie viele Praktika hast du bei SCHOW jetzt schon gemacht? Das dritte, oder? Faktisch hast du hier schon über ein Jahr für Umme gearbeitet, wenn die dich bezahlen wollten, hätten sie es schon längst getan. Was waren denn die letzten Male die Gründe, warum sie dir keinen Vertrag angeboten haben?”

“Beim ersten Mal meinte Schmidt, Investitionen in Hardware hätten Vorrang. Und beim zweiten Mal war es mein Versehen. Der Tietz hat gemeint, als sie mich zum Abteilungsleiter gemacht haben, hätte ich darauf hinweisen müssen, dass ich Praktikant sei. Das ich das nicht getan habe, hat einen ungünstigen Eindruck hinterlassen. Das sähe so aus, als würde ich mir Kompetenzen anmaßen.”

Caroline riss die Augen auf. “Mensch Julius! Die verarschen dich. Merkst du das nicht? Der Schmidt kauft jede Woche irgendwas. Server, Lüfter, Klimazeugs, was weiß ich. Und jede Woche fliegen Leute raus und werden neue eingestellt, ohne jede Überlegung. Und bei dir tun sie so, als wäre in der Firma alles wohlüberlegt und geplant. Und was deine Beförderung zum Abteilungsleiter angeht: Das haben doch Schmidt und Tietz verbockt. Die haben sich absolut lächerlich gemacht. Was kannst du dafür, dass die nicht wissen, wer hier ein Praktikum macht und wer nicht? Suche die Schuld doch nicht bei dir.”

“Ich sehe doch selbst, wie unfair und gelogen das alles ist, ich bin ja nicht blöd. Aber was soll ich denn tun? Ich muss doch mitspielen, oder?” Caroline sah, wie Julius’ Augen feucht wurden.

Deutlich früher als geplant war Wolfram Tietz zu Hause. Er hatte wie zuvor telefonisch vereinbart Herrin Katharina einen Besuch abgestattet. Doch der Besuch hatte sich in eine ungewollte Richtung entwickelt. Zwar war Tietz ursprünglich sehr in Stimmung, doch das Setting, das Tietz gewählt hatte, war zu nah an seiner Wirklichkeit. Das Szenario “Die herrische Betriebsratsvorsitzende” hatte Tietz zwar schon im Büro nach ganz kurzer Überlegung verworfen. Doch der Gedanke, Caroline Gottschalk in seine Phantasien einzubauen, hatte in einer übersprungsartigen Handlung zur Auswahl einer arbeitsnahen Inszenierung geführt. “Die strenge Chefin” stand so auf Tietz’ heutigem Spielplan. Es hatte auch alles ganz gut angefangen. In Herrin Katharinas Studio war ein Arbeitsplatz improvisiert worden. Eine Schreibmaschine stand auf einem Tisch, daneben Block und Bleistift. Geraume Zeit hatte er dort gesessen, nackt, nur mit einem Schurz um die Lenden, bis schließlich Herrin Katharinas strenge Stimme “Tietz zum Diktat!” rief. Es kam dann das Übliche: Runter auf die Knie, dann auf alle Viere, Lackstiefeletten lecken, und so weiter und so fort. Bis hier war für Wolfram Tietz alles so stimulierend und erregend wie immer. Doch als Herrin Katharina zum wiederholten Male Büroschwein, Vorzimmersau und Sachbearbeitersackgesicht zu ihm gesagt hatte, war ihm das erotische Empfinden für die Situation abhanden gekommen. Er fühlte, als würde er sich selbst vorgeführt. Nicht, dass er derartiges zu seinen Angestellten jemals gesagt hätte, das war mehr der Stil von Schmidt. Aber gedacht hatte er es schon und nicht eben selten. Außerdem schien im “Sachbearbeitersackgesicht” viel zu lang und kompliziert für ein richtiges Schimpfwort. Manchmal kam Herrin Katharina auf abstruse Ideen.

“Ich will abbrechen”, hatte Tietz zu Herrin Katharina gesagt, die zunächst nicht richtig verstand.

“Auf die Knie, du kleines Assistentendreckstück”, hatte sie erwidert.

“Nein! Heute nicht!” Tietz wollte sich anziehen.

“Was hast du denn?”, fragte Herrin Katharina und schaltete die Deckenbeleuchtung ein.

Tietz versuchte sich zu erklären. Er sei nicht in Stimmung, er wisse selbst nicht warum, obwohl er eine ziemlich klare Idee hatte, was seinen Stimmungsumschwung ausgelöst hatte. Herrin Katharina bedauerte. Er soll sich jederzeit wieder melden, sie sei gerne für ihn da, das könne jedem Mann mal passieren.

Tietz zog sich an und wollte gehen. Zu seinem Erstaunen gab es dann ein kleines Wortgefecht wegen Herrin Katharinas Honorar. Tietz war sich darüber im Klaren, nichts erstattet zu bekommen, nur weil er früher ging. Doch Herrin Katharina forderte zum eingangs gezahlten Betrag eine, wie sie es nannte, “Abbruchgebühr”. Das sei üblich, meinte sie. Hätte er noch nie gehört, erwiderte Tietz, das läge an seinem geringen Erfahrungsschatz in diesen Dingen, gab Herrin Katharina zurück.  Schließlich sagte Tietz: “Bei Geld werden alle Frauen Nutten”, was zu einem Ausbruch Herrin Katharinas führte, der Tietz nicht gespielt zu sein schien. Sie sei keine Prostituierte, was er sich einbilde. Sie sei eine Domina, sie würde sexuelle Dienstleistungen auf höchstem Niveau anbieten, bei ihr würden Träume war. Er soll sich zum Teufel scheren und nie wieder blicken lassen, aber zuvor die Kohle bitte!

Schließlich zahlte er, es ging ihm nicht ums Geld. Aber seine Besuche hier waren vorläufig gestrichen. Was eine dumme Kuh Katharina im Grunde doch war, dachte er bei sich. Bei dieser Gelegenheit fiel ihm seine Frau Claudia ein. Wo war die eigentlich, die müsste doch auch langsam mal wieder nach Hause kommen.

Als er sein Heim betrat schien ihm dies erstaunlich leer. Etwas fehlte. Wieder dachte er an Claudia. Er streifte die Schuhe ab, nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank und legte sich aufs Sofa vor den Fernseher. Auf Porno hatte er keine Lust. Ob Claudia morgen wohl käme? Vielleicht gab es ja was Interessantes auf dem Sportkanal. Vielleicht sollte er versuchen, sie telefonisch zu erreichen. Aber würde das nicht aussehen, als würde er sie vermissen? Diese Blöße wollte er sich auf keinen Fall geben. Es wurde ein trister Abend. Er langweilte sich, dachte viel an Claudia, das Missliche an seiner Arbeit und sehnte sich nach einem anderen, echteren Leben. Drei Bier später döste er ein und träumte unruhig.

Auch bei Gregor Bauer und Olaf Graf war es inzwischen drei Bier später geworden. Sie unterhielten sich ganz angeregt mit einem Freundespaar, das Olaf gut kannte. Gregor fühlte sich ausgesprochen wohl. Er berichtete davon, wie es sei, einen Betriebsrat zu gründen, gab Tipps, worauf zu achten sei und mit welchen Hindernissen man zu rechnen habe. Olaf relativierte zwischendurch ein bisschen, wenn Gregor seiner Ansicht nach zu sehr übertrieben hatte. Allerdings war Olaf abgelenkt, denn er beobachtete im Spiegel über der Bar die Geschehnisse an der Tür zum Darkroom. Klaus, den Olaf aus anderen Zusammenhängen kannte, belagerte dort Sebastian Markus. Klaus war ziemlich geradeaus und immer auf der Suche nach Sex. Das wusste Olaf aus jenen anderen Zusammenhängen, von denen eben die Rede war. Olaf amüsierte sich köstlich darüber, wie Sebastian Markus nun genau das Verhalten zu spüren bekam, das er gegenüber seinen Kolleginnen an den Tag legte. Sebastian wurde von Klaus zum Objekt gemacht. Vermutlich erzählte ihm Klaus schon seit geraumer Zeit, was er alles mit ihm  anstellen wird und wie geil das für Sebastian würde, weil es ihm noch nie jemand so gründlich und gut besorgt hätte. Er würde die Glocken läuten hören, er würde schreien vor Geilheit und all das Blabla. Sebastian sah ziemlich angepisst aus, konnte sich der Situation jedoch nicht entziehen, denn Klaus stand direkt vor ihm, eine Hand am Türrahmen, die andere am Tresen. Damit war der Fluchtweg versperrt, der einzige Weg, den Klaus für Sebastian offen gelassen hatte, war der Weg in den Darkroom. Obwohl es ihn amüsierte, glaubte Olaf nicht an einen Lerneffekt. Sebastian würde auch morgen wieder die Kolleginnen anhand ihrer Tittengröße bewerten und ebenso wie Klaus jede Zurückweisung als Aufforderung zu noch plumperen Offerten werten.

Kurz nach zehn schlug Olaf vor, zu gehen. Morgen würde sicherlich wieder ein anstrengender Tag. Der letzte dieser Arbeitswoche, aber auch der müsse bewältigt werden. Gregor willigte ein, sie verabschiedeten sich von Olafs Bekannten, wobei Gregor sowohl dem einen als auch dem anderen einen langanhaltenden Zungenkuss aufnötigte. “Dein Heterofreund ist aber ganz schön schwul unterwegs”, flüsterete daraufhin einer der beiden Olaf ins Ohr. Olaf zuckte mit den Schultern, denn er wusste das Ereignis nicht einzuordnen.

“Was eine coole Bar”, meinte Gregor als sie vor dem Lokal standen, “da muss ich mal mit Anna rein.”

“Wer ist Anna?”, wollte Olaf wissen.

“Meine Freundin. Ihr müsst euch unbedingt demnächst kennen lernen.”

“Du hast eine Freundin? Warum steckst du dann anderen Männern die Zunge in den Hals?”

“Die waren doch total nett. Ich dachte, die mögen das.”

“Ja, klar. Die mögen das. Das ist natürlich ein Grund.” Olaf war irritiert.

Einen gänzlich unerotischen Abend verbrachten dagegen Roland Schmidt und Sonja Zand. Roland Schmidt war zunächst mit seinem Computer beschäftigt. Internetrecherche nannte er es, sich die Webseiten anderer Agenturen und deren Werbeerzeugnisse anzugucken. Später spielten sie zusammen Autorennen auf der Playstation. Sonja langweilten diese Spiele zutiefst. Sie spielte ohne Ehrgeiz und verlor entsprechend häufig. Roland machte sich bei jedem Sieg über sie lustig. Sonja verzog das Gesicht.

Was Roland jedoch über alle Maßen störte, waren die häufigen Unterbrechungen, weil Sonja auf ihrem Handy schreiben musste.

“Was machst du da eigentlich?”, fragte er sie schließlich.

“Ich schreibe, das siehst du doch.”

“Und wem? … Hast Du das gesehen? Mit Vollgas durch die Kurve!”

“Ja, toll.”

“Du bist dran. Jetzt hör doch mal auf mit Schreiben. Wem schreibst du da?”

“Sebastian.”

“Jetzt mach schon. Fahr los! … Warum schreibst du dem so spät noch? Was Dienstliches?”

“Der ist in einer Schwulenbar und meldet sich nicht mehr. Ich will nur wissen, ob alles in Ordnung ist.”

“Du hast die Karre schon wieder voll gegen die Wand gesetzt!” Roland lachte hämisch. “Ich wusste gar nicht, dass der schwul ist. Der macht immer so auf Weiberheld.”

“Der ist bi. Er braucht manchmal anale Erotik.” In dem Moment, in dem sie es ausgesprochen hatte, fragte sich Sonja, warum sie so einen Unsinn erzählte. Sie war aber inzwischen auch ziemlich sauer, denn seit geraumer Zeit war keine Nachricht von Sebastian eingegangen. Das Gerücht, das sie eben in die Welt gesetzt hatte, war einfach ihre Art der Strafe für Sebastians Schweigen.

Kurz vor halb elf traf dann doch noch eine Nachricht ein. “Auftrag beendet, bin auf dem Weg nach Hause. Alles Weitere morgen.”

Sonja setzte an diesem Abend noch zahlreiche Nachrichten an Sebastian ab, die im Ton immer ungehaltener und schließlich ausfallend und aggressiv wurden. Schließlich rief sie ihn an, es antwortete jedoch nur die Mailbox. “Wenn du das hörst, ruf mich sofort zurück, du blöder Wichser! Ich will wissen, was da heute los war”, hinterließ sie ihm. Eine Antwort erhielt sie an diesem Abend jedoch nicht mehr.

Das Klingeln des Weckers zog Gregor Bauer aus einem tiefen, traumlosen, aber viel zu kurzen Schlaf herauf in den anbrechenden Tag. Die Bedeutung des Wortes ‘Morgengrauen’ erschloss sich ihm mit neuem Sinn. Morgengrausen, Morgenhorror, Morgenverzweiflung. Er stöhnte und dachte etwas Vorbegriffliches, das ins Begriffliche übertragen wohl am ehesten einem vollumfassenden, nichts ausschließenden ‘Nein!’ entsprochen hätte.

Zwar hatten Gregor und Olaf ‘Tom’s Lounge’ gegen zehn verlassen und er hätte eigentlich früh zu Bett gehen können. Doch zu Hause angekommen fühlte sich Gregor zu aufgedreht, um zu schlafen. Er war von den drei Bier, die sie in der Bar getrunken hatten, etwas beschwipst aber nicht müde. Er hatte dann seine Freundin Anna angerufen und sich erzählen lassen, wie ihr Tag verlaufen war. Es hatte nicht die erwünschte Ablenkung gebracht. Außerdem hatte sie nicht nach seinem Tag gefragt, was ihn enttäuscht hatte, aber er wollte sich auch nicht aufdrängen. Danach hatte er gehofft, im Kühlschrank noch ein Bier vorzufinden, wurde aber erneut enttäuscht. Er sah nach, was es auf Facebook und Google+ Neues gab, wer seine Kommentare kommentiert und wer seine Bilder gut gefunden hatte, entschloss sich dann, doch noch zur Tankstelle gegenüber zu gehen, um Bier zu kaufen. Er fühlte sich inzwischen zwar müde, war aber immer noch unruhig und aufgekratzt. Noch ein Bier würde ihm helfen, einzuschlafen, dachte er. Er zog sich seine Hose an, die er in der Erwartung das Haus nicht mehr zu verlassen, bereits ausgezogen hatte, streifte sich ein Kapuzenshirt über, griff seinen Hausschlüssel, während er in seine Schuhe schlüpfte und machte sich in auf den kurzen Weg zur Tankstelle.

Es dauerte kaum mehr als zehn Minuten und er war zurück. Statt des einen Bier hatte er sich sechs mitgenommen, um den Kühlschrank aufzufüllen, und eine Schachtel Zigaretten dazu. Gregor hatte sich vor etwa zwei Monaten entschlossen, mit dem Rauchen aufzuhören, doch heute hatte er das Gefühl, eine, nur eine Zigarette würde ihm helfen, zu entspannen und zur Ruhe zu kommen.

Seine Einkäufe legte er für einen Moment auf den Küchetisch, er zog Schuhe, Hose und Kapuzenshirt wieder aus, suchte nun nur noch mit Boxershort und T-Shirt bekleidet den Aschenbecher, den vor sich selbst versteckt hatte. Er fand ihn im Küchenschrank hinter einem Päckchen Zwieback. Er griff sich den Flaschenöffner und nahm mit den sechs Bierflaschen und Zigaretten vor seinem PC platz. Nachdem er eine Flasche geöffnete hatte, nahm er eine Zigarette aus der Schachtel, steckte sie an und inhalierte. Es schmeckte furchtbar und ihm wurde schwindelig. Er war sich absolut sicher, es würde bei dieser einen Zigarette bleiben. Er würde sie lediglich zu Ende rauchen und das wäre es dann. Schmeckte ja wirklich widerlich.

Warum ging ihm nur so viel durch den Kopf, fragte er sich. Diese Gedankenflut soll zur Ruhe kommen. Es geht alles durcheinander. Er dachte an ‘Tom’s Lounge’ und das Gespräch mit Olaf und seinen beiden Freunden, er dachte an die Betriebsversammlung, und fühlte eine diffuse aber auch große Verantwortung, er dachte an Sebastian Markus und musste grinsen. Er wollte noch einen Schluck Bier nehmen, aber die Flasche war schon leer. Er öffnete eine neue und steckte sich noch eine Zigarette an, die nun schon viel besser schmeckte und das Schwindelgefühl kam auch nicht wieder.

Vielleicht sollte er etwas Musik hören. Gregor setzte sich Kopfhörer auf, wobei die Zigarette auf den Boden fiel. “Mist”, dachte er, während er sich bückte. Dabei rollte sein Schreibtischstuhl unter ihm weg, weshalb er der Länge nach auf dem Boden landete. Er fragte sich, ob er betrunken sei, verneinte es, denn er fühlte sich erstaunlich klar. Er sah nun ganz klar, wie heroisch und ethisch hervorragend diese Einladung zur Betriebsversammlung war. Und er hatte das vollbracht. Gregor stand mühsam auf, setzte sich in seinen Stuhl und suchte nach passender Musik. Er versuchte es mit Rammstein. Es passte. Er fühlte sich gut und immer besser. Er lachte laut über die Genialität, die in der Idee lag, einen Betriebsrat zu gründen, auch wenn es ihm nicht gelang, zu fassen, worin diese Genialität nun genau bestand. Er zündete noch eine Zigarette an, in der Hoffnung, dieser beständige Strom aus Gedanken und Ideen würde noch weiter anschwellen. Es machte ihn glücklich. Er dachte wieder an Sebastian Markus und wie blöd er ausgesehen hatte dort am Türrahmen in der Bar. Gregor lachte laut und lange. Er tanzte durch sein Zimmer. Er hatte das Gefühl, er würde zusammen mit Caroline und Olaf etwas bewegen, während alle anderen nur Langweiler waren, die zwar jammerten, sich aber auch bereitwillig in ihre Opfersein fügten. Er lachte wieder und tanzte weitere. Jemand klopfte gegen die Wand. “Spießer”, dachte Gregor und stolperte über ein Kabel. Wieder fiel er zu Boden.

Gregor verlor die Kontrolle in dieser Nacht.  Er trank alle sechs Bier und rauchte nahezu die ganze Schachtel. Gegen halb vier ging er völlig betrunken ins Bett.

Jetzt am Morgen fühlte er sich schrecklich. Er war kaum in der Lage, sich zu duschen und anzuziehen. Sein Magen war in Aufruhr, doch er wusste, wo noch Zwieback zu finden war. Für einen Moment überlegte er, ob er einfach krank machen sollte, doch er verwarf den Gedanken. Sie waren dabei einen Betriebsrat zu gründen. Er hatte Verantwortung übernommen. Außerdem war Freitag. Er würde den Tag überstehen. Irgendwie.

“Wie siehst du denn aus? Geht es dir nicht gut?” Caroline Gottschalk war eben in die Straßenbahn eingestiegen, hatte sofort Gregor Bauer entdeckt, sich zu ihm gesetzt und unmittelbar bemerkt, das etwas nicht stimmte.

“Nein, alles in Ordnung. War nur spät gestern.”

“Du hast ganz rote Augen.”

“Ich habe nur ein paar Stunden geschlafen.”

“Und du riechst ziemlich nach Alkohol. Was hast du gestern noch getrieben?”

“Eigentlich nichts. Ich war mit Olaf ein Bier trinken. Was hast du denn gestern noch gemacht?” Gregor Bauer wollte nicht über den weiteren Verlauf seines Abends erzählen.

“Ich hatte ein recht interessantes Gespräch mit Julius George. Der ist jetzt mit Miriam zusammen. Und der wird von Schmidt und Tietz total verarscht. Wusstest du, dass er nebenher arbeitet? Der arbeitet, um ein Praktikum machen zu können. Ist das nicht total verdrehte Welt?”’

“Mit Miriam zusammen?”, fragte Gregor, mehr damit beschäftigt, den Schein der Fähigkeit zur Unterhaltung zu wahren, als wirklich interessiert. Er hatte beständig das Gefühl, von seinem Sitz zu rutschen.

“Ja, Miriam und Julius, stell dir vor! Sie wollen sogar zusammen ziehen. Julius braucht nur einen Job. Es wäre sonst blöd wegen dem Jobcenter, wegen Bedarfsgemeinschaft und so.”

“Bedarfsgemeinschaft?” Gregor wiederholte ein Wort, das ihm im Gedächtnis geblieben war. Sie waren eben in eine Haltestelle eingefahren. Gregor sah auf die Uhr am Bahnsteig und rechnete. Wenn alles gut ging, wäre er in 8 Stunden und 7 Minuten wieder zu Hause und könnte sich ins Bett legen.

“Ja. Julius will zwar kein Hartz IV beantragen, aber falls er es doch müsste und er würde dann mit Miriam zusammen wohnen, wären sie eine Bedarfsgemeinschaft und Miriam müsste für Julius’ Unterhalt aufkommen. So ganz habe ich es auch nicht verstanden.”

“Miriam wohnt mit Julius zusammen?”

“Nein! Du hörst mir überhaupt nicht zu!”

“Ich glaube, ich bin noch blau”, gab Gregor zu. “Ich hoffe, ich überstehe den Tag.”

Caroline biss sich auf die Unterlippe und überlegte einen Moment.

“Kommt Olaf im selben Zustand ins Büro? Das wäre ziemlich blöd.”

“Vermutlich nicht, ich habe mich gestern allein abgeschossen. Das war ein Versehen.”

“Wenn wir im Büro sind, trinkst du sofort Kaffee. Hast Du was gegessen?”

“Einen Zwieback”, antwortete Gregor.

“Gut. Hier ist eine Aspirin. Die nimmst du nachher”, sagte Caroline nachdem sie in ihrer Tasche gekramt und fündig geworden war.

Gregor war dankbar, auch wenn er diese Dankbarkeit in diesem Moment nicht zeigen konnte. Er versuchte zu lächeln, hatte aber das Gefühl, ihm wäre bestenfalls eine Fratze geglückt.

Bei SCHOW angekommen schleuste Caroline Gregor zunächst in die kleine Teeküche, um ihn mit Kaffee wieder auf die Beine zu bringen. Sie erlebten zwei Überraschungen. Zum einen gab es keinen Kaffee und alle Utensilien, die man zum Kaffeekochen brauchte, waren nicht mehr vorhanden. Die Kaffeemaschine fehlte ebenso wie Filter und Kaffeepulver. Die zweite Überraschung saß unmittelbar neben der Küche, denn in der Nische, in der Olaf Graf bisher allein gesessen hatte, saß nun Sebastian Markus neben ihm.

“Was machst du denn hier?”, wandte sich Caroline an Sebastian Markus.

“Feindbeobachtung”, antwortete Sebastian und Olaf Graf zuckte ratlos mit den Schultern.

“Das ist nicht dein Ernst? Kommt das von Tietz oder von Schmidt?” Caroline vergaß für einen Moment Gregor Bauer, der sich in der Teeküche an der Spüle abstützte.

“Ich werde dir keine Informationen geben, die ihr für euren scheiß Betriebsrat verwenden könnt”, antwortete Sebastian Markus deutlich lauter als angemessen.

“Sebastian hat einen schlechten Tag, weil es gestern in Tom’s Lounge später geworden ist. Er hat sich aufreißen lassen.”

“Du linke Schwuchtel, ich hau dir eine aufs Maul, wenn du hier so einen Scheiß verbreitest.” Sebastians Drohung wurde eher zischend als lautstark vorgebracht.

“Was machst Du in Tom’s Lounge?”, fragte Caroline zu Sebastian gewandt.

“Er hat uns gestern den ganzen Abend beschattet”, antwortete Gregor aus der Teeküche anstelle von Sebastian. “Wir sind da rein, weil wir dachten, dann sind wir ihn los, aber er kam uns nach.”

“Ihr versteckt euch in einer Schwulenbar vor einem Kollegen, der euch beschattet? Ich habe irgendwas Entscheidendes nicht mitbekommen, oder?”

Gregor überlegte zu sagen, so schlimm sei es nicht gewesen, denn Olaf und er hätten einen netten Abend mit Olafs schwulen Freunden verbracht. Als er aber daran dachte, dass Caroline dann auch darüber zu informieren sei, dass zwar Olaf, aber er selbst nicht schwul wäre, verwarf er den Gedanken als zu aufwendig in der Umsetzung. Er würde jetzt einfach mal versuchen, die Spüle loszulassen,  um einen Schritt aus der Küche zu tun, um dort der Unterhaltung zu folgen. Zu seinem Erstaunen konnte er eigenständig stehen, ohne umzufallen.

“Kann mich jetzt mal bitte jemand aufklären, was hier vor sich geht?” Caroline Gottschalk war gereizt. “Fangen wir beim Kaffee an. Wo ist die Kaffeemaschine?”

“Kaffee wurde gestrichen”, sagte Olaf Graf.

“Von wem wurde der Kaffee gestrichen und wieso?” Caroline legte fragend die Stirn in Falten.

“Wieso?” Sebastian Markus lachte abfällig. “Wegen euch Vollidioten. Tietz spart für euren Betriebsrat. Kaffee für alle gestrichen. Daran habt ihr Schuld und vor allem diese Oberschwuchtel hier neben mir mit seinen linken Ideen.”

“Was machst du denn jetzt Olaf so dumm an?” Caroline wurde jetzt ebenfalls laut.

“Der ist doch euer Anführer, oder etwa nicht? Die dreckige Schwuchtel möchte sich hier über die Gewerkschaft einen bequemen Arbeitsplatz sichern, während andere hier Leistung erbringen müssen.”

In den umliegenden Büros gingen die Türen auf. Neugierig steckten einige Mitarbeiter die Köpfe aus ihren Arbeitszimmern.

“Du glaubst doch selbst nicht, was du da erzählst”, meinte Gregor, der sich an der Wand abstützte.

“Die dreckige perverse Schwuchtel will einen sicheren Arbeitsplatz haben und sich dann nachts in den Bars rumtreiben und jedem x-beliebigen Ficker den Arsch hinhalten. Kinderficker!” Sebastian Markus machte ein abfällige Geste und streifte Olaf Graf dabei an der Schulter.

“Wieso ich? Du warst doch gestern mit Klaus im Darkroom. Hat er es dir nicht gut besorgt?”

Sebastian riss Olaf am Kragen aus dem Stuhl hoch und schlug seinen Kopf gegen die Wand. “Halt die Fresse du pervese Sau, oder ich mach dich alle!”

“Kann jetzt jemand mal die Polizei rufen!”, wandte sich Caroline an die neugierig umherstehenden Kollegen, woraufhin sich einige Türen wieder schlossen.

“Ich habe den Tietz angerufen. Er kommt gleich runter”, rief Marcel Kempker der aus einem der Grafikabteilung zugeteilten Büro auf die Szene zutrat. “Du hörst jetzt sofort auf, Sebastian! Das geht zu weit.”

Sebastian Markus ließ Olaf Graf los und trat einen Schritt zurück. “Ihr glaubt doch nicht, dass mir jetzt hier irgendwas passiert? Du bist hier Freiwild, Graf! Keinen Cent gebe ich für dein Leben.”

“Du hast doch einen massiven Knall!” Angesichts von Sebastian Markus’ Gewaltausbruch war in seinem Körper Adrenalin freigesetzt worden und Gregor Bauer war mit einem Schlag nüchtern.

Als Wolfram Tietz Marcel Kempkers Anruf erhalten hatte, versprach er, sofort zu kommen. Allerdings hatte er nicht die Absicht, das Versprechen auch zu halten. Da unten war die Situation aufgeheizt. Aus der Sicht von Wolfram Tietz war das nicht nur gut, sondern sogar gewünscht. Die Idee, den in seinen Augen recht primitiven Krawallmacher Sebastian Markus neben Olaf Graf zu setzen, zahlte sich viel schneller aus, als er gedacht hatte. Er holte sich noch einen Kaffee, denn für ihn und Schmidt gab es noch welchen, er wies Sabine Müller an, endlich die eingesammelten Kaffeemaschinen irgendwo zu verstauen, weil sonst noch jemand darüber fallen würde, zog sich wieder in sein Büro zurück, spielte eine runde Solitär am Computer während er seinen Kaffee genoss und machte sich dann ganz ganz langsam auf den Weg in die untere Etage zu den Arbeitsplätzen von Sebastian Markus und Olaf Graf. Als er eintraf kühlte Caroline Gottschalk gerade Olaf Grafs Stirn mittels improvisiertem Eisbeutel. Einige Mitarbeiter standen herum und diskutierten aufgeregt das Geschehene.

“Was haben wir denn hier für Probleme?”, fragte er in die Runde.

“Sebastian Markus wurde gewalttätig!”, rief Caroline Gottschalk, hob den improvisierten Eisbeutel von Olaf Grafs Stirn und deutete auf die darunter liegende Schwellung.

“Unglaublich! Wurde er denn vorab provokant angegangen?”, wollte Tietz wissen.

“Überhaupt nicht! Er hat Olaf beschimpft, hat ihn am Kragen hochgezogen und seinen Kopf gegen die Wand geknallt!” Carolines Stimme war kurz davor sich zu überschlagen.

“Furchtbar! Wo finde ich ihn?” Tietz machte ein besorgtes Gesicht und hoffte, diesen Ausdruck noch eine Weile aufrecht erhalten zu können, denn innerlich rieb er sich vor Freude die Hände.

“Er ist draußen. Eine rauchen.” Gregor Bauer wies in die Richtung, in die Sebastian Markus den Raum verlassen hatte.

“Ich kümmere mich um ihn. Sie drei kommen nachher zu mir ins Büro. Wir reden dann über die Vorfälle. Alle anderen: An die Arbeit!” Wolfram Tietz wandte sich zum Gehen, die Absicht, mit Sebastian Markus zu sprechen hatte er allerdings nicht.

Als er weg war, sagte Caroline zu Olaf: “Eigentlich ist der Tietz ganz süß. Immer wenn er aufgeregt ist, fängt er an zu lispeln.”

“Vermutlich lispelt der Tietz immer”, mischte sich Marcel Kempker ein. “Nur wenn er nervös ist, fallen ihm auf die Schnelle keine Worte ohne S ein.”

“Meinst du wirklich?” Caroline war erstaunt. “Muss ich mal drauf achten. Aber er kümmert sich um uns. Das muss man ihm lassen.”

Olaf stöhnte, wobei unklar blieb, ob vor Schmerz oder aus Verzweiflung über Carolines Mangel an Menschenkenntnis.

Wolfram Tietz hatte gerade die Tür zu seinem Büro geöffnet, da klingelte das Telefon. Er nahm an, es sei Schmidt.

“Ja, bitte”, sprach Tietz in den Hörer. Aus nachvollziehbaren Gründen meldete er sich nie mit seinem Namen.

“Was war da eben los?”, wollte Roland Schmidt wissen. “Komm sofort runter und berichte!”

Tietz rollte mit den Augen. “Ich bin in drei Minuten unten. Einen kleinen Moment, bitte.”

Er setzte sich, betrachtete seinen Posteingang und nahm einen Schluck Kaffee, der inzwischen kalt geworden war. Tietz störte das nicht, er hatte zu Hause auch schon den Kaffee vom Vortrag getrunken. Es ging ihm mehr um die Wirkung als um den Geschmack. In seiner Abwesenheit waren fünf neue Mails eingegangen. Zu seiner Überraschung war eine von seiner Frau Claudia dabei. Normalerweise rief sie einfach an, um ihm mitzuteilen, wie sehr sie zwar immer noch enttäuscht von ihm sei, dass sie ihm aber dennoch verziehen, er sie daher um soundsoviel Uhr vom Flughafen abzuholen habe.

Tietz war unschlüssig. Sollte er klicken und die Nachricht jetzt lesen oder erst zu Schmidt? Er entschied sich, zuerst zu Schmidt zu gehen, klickte dann aber versehentlich beim Aufstehen doch auf die Betreffzeile. Die Mail öffnete sich. Tietz stach das Wort “Yogaschule” in die Augen, was seine Neugier weckte. Er begann im Stehen zu lesen, setzte sich dann aber schnell.

In ihrer Email teilte Claudia ihm mit, sie benötige noch länger Abstand zu ihm, denn sie sei in einer Phase der Selbstfindung.  Es ginge ihr gut hier auf Djerba, die Menschen seien sehr nett, ausgesprochen höflich und einfühlsam, so ursprünglich und natürlich. Sie hätte in ihrem Resort wirklich interessante Menschen kennen gelernt, die ihr die Augen geöffnet hätten, es wäre gleichsam Kismet. In Deutschland würde sie sich nicht entfalten können, würde nie zu sich selbst finden. Hier im schönen Tunesien sei ihr das möglich. Sie könne hier in einer Yogaschule arbeiten. Es sei ihr ein Vertrag für ein halbes Jahr angeboten worden und sie wolle das Angebot annehmen. Er, Tietz, solle versuchen sie zu verstehen. Die Tristesse und der Alltag in Deutschland, jeder Tag die Wiederholung des vorhergegangenen …

“Aber du kannst doch gar kein Yoga, du blöde Kuh!”, entfuhr es Tietz, woraufhin Sabine Müller klopfte und nachfragte, ob alles in Ordnung sei.

“Ja!”, rief Tietz, und in dem Moment, in dem Sabine Müller die Tür wieder schließen wollte, rief er “Nein! Reinkommen!”

Tietz bat Sabine Müller, bei seiner Bank anzurufen. Seine Kreditkarte sei ihm vermutlich gestohlen worden. Vielleicht habe er sie auch nur verlegt. Sicherheitshalber solle sie aber gesperrt werden. Ob sie das erledigen könne, wollte Tietz wissen.

“Kein Problem! Wird sofort erledigt.”

Auf dem Weg zu Schmidts Büro konnte Tietz ein Grinsen nicht unterdrücken. Es würde Claudia sicherlich überraschen, wie alle Einfühlung und Natürlichkeit ihrer neuen Freunde plötzlich dahinschwinden würde, wenn ihre VISA-Karte nicht mehr funktioniere und sie tatsächlich von einem lokalen Gehalt leben müsse. Er war sich ganz sicher, die Yoga-Schule sei nur eine Erfindung und eine ausgesprochen dämliche noch obendrein. Sie würde vermutlich am Strand rumlungern, Caipirinha in sich reinschütten, sich von irgendwelchen Tunesiern aufreißen lassen und allen Ernstes erwarten, er solle für diese moderne Form der Selbstfindung zahlen. Aber nicht mit ihm.

Als er an Olaf Grafs Arbeitsplatz vorbei kam, stand da immer noch Caroline Gottschalk und inzwischen auch wieder Gregor Bauer, die weiterhin über den Vorfall mit Sebastian Markus diskutierten.

So ginge das nicht, ließ er die drei in gereiztem Ton wissen. Auch wenn sie zur Gründung eines Betriebsrates aufrufen würden, wären sie trotzdem vorrangig noch zum Arbeiten hier. Sie sollten daher jetzt an ihre Arbeitsplätze gehen und sich sputen.

“Und Sebastian Markus darf rauchen so lange er will?”, fragte Caroline Gottschalk.

“Anderer Fall, gehört hier nicht her. An die Arbeit!”, entgegnete Tietz.

Als er schließlich in Roland Schmidts Büro ankam, war er für einen Moment überrascht, dort auch Sonja Zand und Sebastian Markus anzutreffen. Tietz ahnte dann aber, die ‘Zelle des Widerstandes’ hätte sich gegenüber Roland Schmidt zu erkennen gegeben.

“Tietz, das geht mir alles nicht schnell genug”, sagte Roland Schmidt. “Das ist jetzt schon der dritte Tag und die Sache mit dem Betriebsrat ist immer noch nicht aus der Welt. Das macht mich fertig. Sonja hat ein paar gute Ideen zum Thema.” Dann erzählte Schmidt die ganze Geschichte nochmal, die Tietz schon von Sonja kannte. Beschatten, verfolgen, berichten, den ganzen unausgereiften Kindergartenkram. Die Wiederholung aus Schmidts Mund machte die Sache für Tietz nicht plausibler.

Er sagte zu Schmidt, wie sehr er die Unterstützung seitens Sonja Zand und Sebastian Markus schätzen würde, allein aus rechtlichen Gründen solle man sich hier jedoch vorsichtig verhalten. Es wäre besser, dies liefe als private Initiative weiter ohne eine weitergehende Unterstützung oder auch nur das Wissen darum durch einen Vertreter der GmbH.

“Das heißt, ich soll mir die Nächte in Schwulenbars um die Ohren schlagen ohne jede Anerkennung und Unterstützung?”, fragte Sebastian.

“Ich dachte, du gehst da …, Sonja hilf mir, wie hast du es ausgedrückt? Ach ja, Ich dachte, du gehst da wegen der analen Erotik hin, oder etwa nicht?”, antwortete Roland Schmidt mit einer Gegenfrage. Sonja wurde rot und Sebastian warf ihr einen zunächst fragenden, dann verstehenden und schließlich hasserfüllten Blick zu.

“Nein, ich gehe da für die Firma hin. Damit es hier keinen Betriebsrat gibt. Mein Arsch ist Jungfrau und bleibt es auch!”

Sebastian Markus, der sich durch die eben gemachte Unterstellung tief in seiner Männlichkeit gekränkt fühlte, wurde laut. Was das hier für ein Scheißladen sei, wollte er wissen. Er würde für die Firma rund um die Uhr arbeiten, würde ohne zu zögern selbst schwierigste und kniffligste Probleme lösen, wie jetzt zum Beispiel das Problem des Betriebsrates. Doch dann würde er von Tietz und Schmidt hintergangen. Irgendwann würden sie ihm seinen rechtmäßigen Anteil zahlen müssen.

Schmidt und Tietz sahen sich an. “Deinen rechtmäßigen Anteil bekommst du jeweils zum Ersten aufs Konto”, meinte Schmidt.

“Das ist ein bisschen wenig für das, was ich für die Firma tue.”

“Über eine Lohnerhöhung können wir reden, wenn durch ihre Aktionen keine Arbeitnehmervertretung gewählt wurde”, sagte Tietz. Es war eine dieser merkwürdigen Situationen, die Tietz nicht schätzte. Roland Schmidt duzte alle Mitarbeiter, er bevorzugte das Sie. Er fühlte sich unwohl, wenn sie zusammen mit Mitarbeitern sprachen. Er fühlte sich dann, als wäre er der spießige Alte. Dass es bei ihm in der Regel um den Themenkreis Geld verhandeln, Löhne drücken und Kündigungen aussprechen ging, störte ihn dagegen nicht.

“Ich könnte die Seiten wechseln, schließlich bin ich auch Arbeitnehmer! Dann habt ihr ein Problem. Und wenn ich Betriebsrat werde, erst recht!”, drohte Sebastian Markus.

“Hast du einen Schuss? Was redest du da für einen Schwachsinn?” Sonja schaltete sich in die Unterhaltung ein.

“Ich denke, wir brechen hier ab”, warf Tietz ein, denn er hatte das Gefühl, die Situation würde ihm entgleiten. Er würde jedoch Sebastian Markus als Kandidaten für eine Kündigung im Gedächtnis behalten, da ihm offensichtlich etwas zu Kopf gestiegen war. “Wir benötigen einen Moment allein” fügte Tietz hinzu und deutete mit der Hand zunächst auf Schmidt, dann auf sich.

Nun waren es Sebastian Markus und Sonja Zand, die Blicke tauschten. Sebastian nickte Richtung Tür und gab Sonja zu verstehen, sie habe ihm zu folgen, was sie auch bereitwillig tat.

Kaum hatte Sonja die Tür hinter sich geschlossen fragte Sebastian: “Was hast du Roland erzählt?”

“Nichts! Nur dass du für die Firma unterwegs bist.”

“Und wie kommt er dann auf den Arschfick-Mist? Du hast ihm doch irgendeine Scheiße erzählt!”

Sonja fühlte sich in der Defensive. Sie beschloss zum Angriff überzugehen. “Ich habe ihm keine Scheiße erzählt. Du hast eben Scheiße erzählt! Von wegen Jungfrau!”, sagte sie und streckte bedeutsam ihren Zeigefinger in die Luft und ließ ihn kreisen.

“Du vergleichst Äpfel mir Birnen.”

“Wieso? Du stehst drauf. Gib es einfach zu.”

“Ich bin keine Schwuchtel!”

“Aber auch keine Jungfrau! Wie machen wir jetzt weiter?” Sonja fühlte, die Zeit sei reif für einen Themenwechsel.

“Lass uns in dein Büro gehen und alles bereden”, schlug Sebastian vor. “Hier auf dem Gang kann ja jeder mithören. Vor allem aber hör auf, Scheiße über mich zu erzählen!”

“Hab dich nicht so. Ist doch nichts passiert.” Sonja öffnete die Tür zu ihrem Arbeitszimmer. Mehr jedoch als gemeinsam das künftige Vorgehen zu planen war sie daran interessiert, im Detail von den gestrigen Ereignissen in ‘Tom’s Lounge’ berichtet zu bekommen. Während sie mit großer voyeuristischer Lust Sebastian ausquetschte und ihn dazu brachte, selbst die kleinste und im Grunde völlig unbedeutende Einzelheit zu erzählen, berichtete Tietz Roland Schmidt über die Szene, die sich zwischen Sebsastian Markus und Olaf Graf zugetragen hatte. Zwar war er selbst nicht anwesend gewesen, das hielt ihn nun jedoch nicht davon ab, das Ereignis in seinem Sinne auszuschmücken. Roland Schmidt bekam den Eindruck, die Absage der Betriebsversammlung durch Olaf Graf, ja sein ganz offizieller Widerruf, das Übernehmen der Verantwortung für die Unruhe der vergangenen Tage und ein Schuldeingeständnis stünden unmittelbar bevor.

Dass Olaf Graf so weit gebracht werden konnte, war wiederum sein persönlicher Verdienst, wurde Tietz nicht müde zu betonen. Es war schließlich seine Idee gewesen, Sebastian Markus unten bei Graf in der Nische zu platzieren. Es sei seine Absicht gewesen, die Situation eskalieren, ja, explodieren zu lassen.

“Alles klar, Tietz. Ich hab es kapiert. Du bist der Held der Stunde”, sagte Roland Schmidt, nachdem er den Bericht gehört hatte.

Tietz kam sich veralbert und daher herabgesetzt vor.

“Ich sag dir was, Tietz. Das Thema Betriebsrat ist spätestens am Montag zu Ende. Das geht mir mit jeder Sekunde mehr auf den Zeiger. Wir haben andere Aufgaben, als uns mit so einem Scheiß zu beschäftigen. Wie und mit welchen Mitteln du das erledigst, ist mir egal. Greif auf Sonja zurück, die hat gute Ideen. Aber vor allem, bring es zu Ende. Sonst es es dein Stuhl, der hier wackelt.”

Tietz fühlte sich nun nicht nur herabgesetzt, sondern wie ein getretener Hund. So hatte Schmidt noch nie mit ihm geredet. Er wusste zwar, dass Schmidt wusste, was er alles über ihn und die Firma wusste, seine Drohung daher nur dem Moment und seiner Erregung geschuldet war. Dennoch fühlte sich Tietz tief getroffen. Wortlos zog er sich zurück.

Kurz bevor er sein Büro erreicht hatte, hielt ihn Sabine Müller auf. Sie habe gute Nachrichten, meinte sie. Sie hätte die Kreditkarte wie gewünscht sperren lassen. Und jetzt käme die gute Nachricht: “In den letzten sieben Tagen wurde keine Buchung vorgenommen. Toll, nicht?”

“Ja, wirklich wunderbar”, antwortete Tietz und fragte sich, warum die Müller immer zu völlig falschen Einschätzungen kommen würde? Einfach behämmert, die Frau. Die wirklich wichtige Frage war jedoch, warum die Kreditkarte nicht belastet wurde? Wie finanziert sich Claudia?

Tietz fühlte sich nun noch schlechter. Schmidt nahm sich heraus, ihn runter zu machen, Claudia nahm sich raus, selbstständig zu werden. Es war zum Kotzen. Tietz sehnte sich nach dem Wochenende. Doch in dem Moment, in dem er an die viele freie, unverbaute Zeit dachte, überfiel ihn auch so etwas wie Angst. Wie würde er die Zeit füllen? Claudia war nicht da, Herrin Katharina war tabu. Sollte er die Kinder von den Schwiegereltern holen und mit ihnen in den Zoo? Er fühlte Tränen in sich aufsteigen. Und Schuld an der ganzen Misere hatten Graf, Bauer und ein bisschen auch die Gottschalk. Hätte man ihn gefragt, worin diese Schuld läge, wäre Tietz die Absurdität seiner rein auf Gefühlen basierenden Verknüpfung aufgefallen. Allerdings fragte niemand.

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