Den Abschluss eines weitgehend gelungenen Abends sollte ein spätes Essen im erweiterten Kreis bilden. Der Kreis war derart erweitert, dass mir unbekannte Personen daran teilnehmen sollten. Mir wurden daher erneut Menschen vorgestellt, deren Namen ich inzwischen nur noch schwerlich erinnern kann. Ich war zugegebenermaßen auch sehr müde. Allerdings ist mir ein Name dann doch deutlich in Erinnerung geblieben. Mir wurde eine Britin vorgestellt. Frisur Vidal Sasoon, Kleid vom Designer, Zähne waren auch teuer. Sie sprach ausgiebig von Kunst, ich hörte aktiv zu, denn ich war müde.
Aktives Zuhören ist eine relativ einfach zu erlernende Technik, die ich von Zeit zu Zeit anwende, da sie dem Sprecher den Eindruck vermittelt, meine volle Aufmerksamkeit zu besitzen, während ich mich gedanklich anderen Dingen widmen kann, zum Beispiel der Entspannung. Insbesondere im Zustand geistiger Erschöpfung kommt daher das aktive Zuhören gern zum Einsatz. Auf der untersten Stufe dieser Technik steht das sozialarbeiterische Grunzen. Man sagt einfach hin und wieder „hmm, hmm“. Das kennt jeder und ist daher einfach zu durchschauen. Eine etwas weiter wenn auch nicht sehr weit fortgeschrittene Technik aktiven Zuhörens ist, von Zeit zu Zeit einzelne Teile des Gehörten wörtlich zu wiederholen. Das funktioniert sehr gut, denn wir haben in aller Regel eine äußerst schwache Erinnerung daran, was wir eben gesagt hatten. Wird es schlicht wiederholt, entsteht komischerweise nicht der Eindruck der Verarschung, sondern der von empathischer Einfühlung.
Ein einfacher Dialog in aktivem Zuhören könnte dann so aussehen:
„Robert ist ein beeindruckender Mensch. So nett und natürlich. Ich mag ihn.“
Aktiv zugehörte Erwiderung: „Robert ist ein beeindruckender Mensch.“
„Ja das ist er. Natürlich mit Eigenheiten.“
….
Sollte allerdings wider Erwarten keine Erweiterung des Gesagten, sondern so etwas kommen wie „das habe ich doch eben gesagt!“, ist sofort die Technik deutlich zu verfeinern, oder besser noch, ganz zu wechseln. Ist das Gegenüber allerdings etwas alkoholisiert, wie in dem zu beschreibenden Fall der Britin, muss man sich auf eine derartige Überraschung nicht einstellen, denn der Alkohol eliminiert das sensorische Gedächtnis auch schon in niedrigen Dosierungen nahezu vollständig. Jedenfalls reichten zwei Margaritas aus, um bei meinem Gegenüber den Eindruck zu erwecken, ich sei ihm empathisch verbunden, während ich mich in Wahrheit innerlich meiner Müdigkeit überließ. Eigentlich ziemlich fies. Ich mache das daher nur selten, aber in diesem Fall ging es nicht anders, denn ich war wirklich erschöpft, konnte der Situation aber nicht entkommen.
Durch diesen miesen Trick erschlich ich mir die Sympathie meiner Gesprächspartnerin, die nicht gewahr wurde, dass es sich gar nicht um eine Gesprächspartnerschaft handelte, sondern sie weitgehend allein vor einem Spiegel stand, sie sich selbst bewunderte und den Spiegel mit dem Bewunderer verwechselte.
Dummerweise zog sich der Abend länger und immer länger hin und durch das viele aktive Zuhören und Gespiegele verstärkten sich die mir entgegen gebrachten Sympathien mehr und mehr, was zu einer erstaunlichen emotionalen Öffnung seitens der Britin führte.
Endlich! Endlich einmal hätte sie Gelegenheit nachzufragen, meinte sie plötzlich voll von Gefühl. Endlich! Und bevor ich noch elegant spiegeln konnte, fuhr sie schon fort: „Wie ist es denn als Deutscher so… Ich meine, wie ist es, mit dieser Bürde zu leben?“ –
Ehhhm, ja. –
Erstaunlicherweise wusste ich unmittelbar, was sie mit Bürde meinte. Und ich denke, den meisten Inhabern eines deutschen Personalausweises wäre es da ähnlich ergangen. Sie meinte nicht die Bürde, dass wir hierzulande keine richtigen Revolutionen hinbekommen. Sie meinte auch nicht, dass durch die aktuelle deutsche Politik das europäische Projekt massiven Schaden erleidet. Nein, sie meinte etwas anderes, und die Tatsache, dass mir unmittelbar klar war, von was sie sprach, machte deutlich, dass es sie tatsächlich gab: Die Bürde. Man musste sie nicht mal beim Namen nennen. Man musste nicht mal mit dem Begriff „Bürde“ einverstanden sein. Es gibt etwas historisch Lastendes.
Ich sagte: „Well!“, und bereitete im Geiste eine kleine Rede vor. Ich wollte sie kurz halten und einen kleinen Einblick geben in die Ambivalenz der deutschen Seele. Einerseits dem Ethischen verpflichtet, dem kategorischen Imperativ und der Freiheit des Geistes, und dann eben genau an all der Aufklärung, dem Deutschen Idealismus, an Kant, Hegel und Humboldt historisch scheiternd. In den wenigen Bruchteilen der Sekunde meiner Überlegung wurde mir die Größe des Projektes bewusst und damit die Unmöglichkeit es gegenüber einer etwas angeschickerten Britin würdevoll zum Abschluss bringen zu können. Ich entschloss mich, es beim „Well!“ zu belassen, ganz allgemein auf das Interessante an der Fragestellung hinzuweisen und mit einem Hinweis auf die Komplexität des Themas die ganze Sache auf unbestimmte Zeit zu vertagen.
Zum Glück konnten mein attraktiver Begleiter und ich die Veranstaltung unmittelbar darauf verlassen. Zuvor aber noch meinte die beschwipste Britin „But I admit, Germany has improved a lot lately.“ Ich dachte etwas sehr Unhöfliches, sagte „Thank you!“ und wir gingen. Wahrscheinlich war sie doch besoffener als ich annahm und hatte heimlich vorgeglüht. Ihren Namen, der mir im Gedachtnis geblieben ist, verrate ich jedoch trotzdem nicht. Die hier namenlos gelassene Bürde ist uns allen weithin bekannt.
Ja, die Bürde…
Bin gerade erst drauf gestoßen, auf die Bürde. – Well, ich meide ja notorisch die „Gefällt mir“ – Knöpfchen; zu unpersönlich. Als aktive Langversion möchte ich bemerken, dass mir dieser Beitrag richtig gut gefällt.
Die beschickerte britische Dame hätte ohnehin anstelle eines Exkurses über Kant und die Humboldt-Brothers ein paar Zitate aus den Seven Pillows of Wisdom vorgezogen, ohne sich an den Pillars zu stören. Perfides Albion. Nameless shame.
Greetings.