Es wäre ihm lieber gewesen, sie wären zu Hause geblieben. Er hatte keine Lust auf diese Spaziergänge, zu denen ihn Jens immer Zwang. Einmal am Tag frische Luft. So ein Blödsinn. Er könnte jetzt zu Hause sitzen, vertieft in seinen Roman, eingetaucht in eine andere Welt und Erfahrungen machen. Stattdessen stapften sie hier im Herbstregen durch die Landschaft, ihm war es kalt und ungemütlich. Jens erzählte etwas von „herrlich“ und „wohltuend“. Er wollte aber nur nach Hause.
„Das ist ein ganz wunderbares Licht, alles wie aus Gold. Wow… da hinten gibt es jetzt noch einen Regenbogen! Unglaublich. Stefan, schau doch mal.“
Jens geriet immer mehr ins Schwärmen, doch in dem Maße, wie die Begeisterung bei Jens zu nahm, nahm sie bei Jens ab.
„Hier liegt alles voller Laub und Kastanien. Das ist total glitschig durch den Regen, da haut es bestimmt noch jemanden auf die Fresse.“
„Sei doch nicht so negativ. Sieht doch toll aus, das gelbe Laub.“
Je mehr Jens Stefan davon überzeugen wollte, wie wunderbar so ein Herbstspaziergang war, desto größer wurde Stefans Widerstand. Würde ihn Jens nicht ständig dazu auffordern, etwas Schönes zu entdecken, hätte er diesem Spaziergang längst etwas abgewinnen können. Doch so blieb ihm nichts als Verweigerung. Ein merkwürdiger Zug, dachte er bei sich, ohne jedoch etwas gegen diese Regung unternehmen zu können.
Sie waren ein merkwürdig anzusehendes Paar. Jens mit erhobenem Kopf, unentwegt lächeln, ein kraftvoller Ausdruck der Lebensfreude und daneben Stefan, in sich versunken, den Kragen hochgeschlagen und die Mütze tief ins Gesicht geschoben.
„Autsch! Was ist das jetzt für eine Scheiße?“ Stefan sah nach oben.
„Was ist jetzt los?“
„Mir ist so eine blöde Dreckskastanie von so einem Scheißbaum direkt auf den Kopf gefallen! Das tut echt weh.“ Stefan versuchte, so viel Empörung wie möglich auszudrücken.
Jens grinste. „Bringt Glück.“
„Quatsch! Das habe ich noch nie gehört, das hast du dir ausgedacht. Vogelkacke bringt Glück. Aber auch nur angeblich.“
„Wo ist sie denn hingefallen? Wir nehmen sie mit, als Erinnerung.“
„Irgendwo da.“ Stefan deutete auf eine Stelle unweit von seinen Füßen.
„Das ist aber eine komische Kastanie.“
Vor Stefan lag ein Gegenstand, der zwar die Größe einer Kastanie, jedoch überhaupt nicht ihr Aussehen hatte. Schon die Farbe war anders. Statt eines satten Braun hatte dieses Ding ein metallisches Grün. Es war auch nicht rund, sondern bestand aus Quadraten und Dreiecken, hatte die Form eines Kuboktaeders. Die einzelnen Flächen hatten so etwas wie dunkle Vertiefungen. Stefan nahm das Ding auf und besah es sich genauer, konnte aber nicht erkennen, ob es sich um so etwas wie Poren handelte, oder ob die Oberfläche geschlossen war.
„Was ist das denn?“ Stefans Neugier war geweckt und seine schlechte Laune schlagartig verflogen.
„Ich habe keine Ahnung. Auf jeden Fall keine Kastanie.“
„Gib mal her!“ Stefan nahm Jens das Fundstück ab.
„Fühlt sich ziemlich fest an. Kann man auf jeden Fall nicht zusammendrücken.“
„Eine Kastanie kann man auch nicht zusammendrücken.“ Jens machte sich lustig.
„Ja, du Pfeife, eine Kastanie sieht aber auch nicht aus, als ob man sie zusammendrücken könnte. Das Ding hier schon.“
„Nimm es mit. Wir gucken zu Hause nach, was es ist. Bestimmt irgendeine Samenkapsel.“
Stefan steckte das grüne Ding in die Tasche. Den Rückweg trat er mit deutlich besserer Laune an, als erwartet. Mit der Hand in der Tasche spielte er an dem Fund. Er hatte das Gefühl, die Samenkapsel würde eine Art pulsierender Wärme ausstrahlen. Sicher war er sich allerdings nicht.
Zu Hause saßen Stefan und Jens am Küchentisch, jeder eine Tasse heißen Tees vor sich, um sich aufzuwärmen. Ihr Fund aus dem Wald lag zwischen ihnen.
„So was habe ich ehrlich gesagt noch nie gesehen. Sieht pflanzlich aus, aber dann auch wieder wie von Menschenhand gemacht.“ Jens nahm einen Schluck Tee und verbrannte sich fast die Zunge.
„Und was machen wir jetzt damit?“
„Keine Ahnung. Sieht auf jeden Fall ziemlich abgefahren aus. Ob man das Ding aufmachen kann? Es scheint ja so eine Art Samenkapsel zu sein. Ich denke jedenfalls, dass da was drin ist.“ Jens holte ein Messer und machte sich ans Werk. Doch so sehr er sich auch mühte, die Kapsel ließ sich nicht öffnen. Im Gegenteil trug sie nicht den kleinsten Kratzer davon, während das Messer stumpf und stumpfer wurde. Schließlich brach Jens die Messerspitze ab.
„Nimm doch was anderes, ein richtiges Werkzeug. Du machst ja alles kaputt.“ Stefan stand auf und holte den Werkzeugkasten. Doch egal welches Werkzeug sie auch benutzten, das Ergebnis blieb das Gleiche. Die Kapsel ließ sich nicht öffnen. Einzig das jeweilig benutze Werkzeug trug Schaden davon. Schließlich ließen die beiden von ihrem Fund ab.
„Was ist das denn für ein Ding?“ Jens wischte sich kleine Schweißperlen von der Stirn, so hatte er sich verausgabt.
„Das ist mir auch schleierhaft. Es ist auf jeden Fall sehr robust. Wir könnten es über Nacht einweichen, vielleicht lässt es sich dann morgen einfacher öffnen.“
Die beiden Freunde dachten nicht mehr darüber nach, warum sie die Kapsel öffnen wollten. Die Idee war aufgetaucht und sie wurde nicht mehr weiter hinterfragt; es hatte sich verselbständigt. Während Stefan einen Becher mit Wasser füllte, um dort das Ding aus dem Wald zu wässern, holte Jens sein Notebook. Er wollte nachsehen, um was es sich bei dem Fund handeln könnte. Doch auch nach ausgiebiger Suche fand sich nichts, das den beiden weitergeholfen hätte. Etwas wie den Gegenstand, der jetzt bei ihnen in einem Kaffeebecher mit Wasser bedeckt in der Küche stand, schien es nicht zu geben.
Als Stefan am nächsten Morgen nachsah, wie es um den Fund aus dem Wald in seinem Wasserbad stand, machte er eine merkwürdige Entdeckung. Aus der Kapsel ragten deutlich sichtbar feine Wurzeln. Er holte Jens, der sich verschlafen über den Kaffeebecher beugte.
„Wäre mir lieber, da wäre Kaffee drin“, sagte er bevor er den Inhalt des Bechers in Augenschein nahm. Dann allerdings war er unmittelbar wach. „Mensch! Das gibt es doch gar nicht! In einer Nacht gewachsen? Das kann doch gar nicht sein. Schau mal, das sind ganz komische Wurzeln, die bewegen sich ja aktiv hin und her und krallen sich an der Becherwand fest.“
Nun war es Stefan, der sich interessiert über den Kaffeebecher beugte. „Tatsache! Du hast recht. Die Dinger bewegen sich. Was ist das für eine Pflanze? Ist das überhaupt eine?“
Wieder grübelten die beiden ergebnislos darüber nach, um was es sich bei dem Fund im Wald handeln könnte. Stefan googelte aufs Neue. Auch das förderte keine Erkenntnis zu Tage. Schließlich setzte Jens Kaffee auf, in der Hoffnung, das Coffein würde anregend wirken und die Gedanken in Schwung bringen. Er kam sich inzwischen fast schon lächerlich vor, eine einfache Samenkapsel aus einem nahegelegenen Wald mit so unglaublich spezifischen Eigenschaften nicht nur nicht zu kennen, sondern auch mit Internet und Suchmaschinen nicht ermitteln zu können.
Inzwischen hielt jeder einen Kaffee in der Hand. „Lass uns das Ding nochmal genauer untersuchen“ Jens holte den Becher. „Guck mal, ich glaube, das Ding ist gewachsen.“
„Das ist doch unmöglich. Es ist doch keine Stunde her, dass wir es uns angeguckt haben“, meinte Stefan, doch nach einem Blick in den Becher runzelte er die Stirn. „Das gibt es doch gar nicht. Was ist das für ein Ding?“
„Ich hole es mal raus.“ Jens stellte seinen Kaffee beiseite und griff vorsichtig in den Becher. In der Sekunde, in der er eine der wurzelähnlichen Tentakel der Kapsel berührte, durchströmte ihn ein helles Licht. Weit öffnete er die Augen, denn unglaublich war, was er da sah. Er hörte nicht, wie Stefan seinen Namen rief. Er sah eine Welt, fremd, mit Pflanzen, wie er sie noch nie gesehen hatte. Zwei Sonnen standen am glühend roten Himmel. All das wich in dem Moment zurück, als Stefan ihn an den Schultern rüttelte und dadurch sein Finger aus dem Becher glitt.
„Was ist denn los?“ Stefan sah Jens besorgt an. „Du warst plötzlich wie erstarrt und hattest unheimliche Augen. Weit aufgerissen und die Pupillen gingen hin und her, als würdest Du etwas beobachten“
„Ich hatte gerade eine unglaubliche Vision.“ Jens fühlte sich zwar körperlich etwas erschöpft, aber sein Geist schien ihm so rege wie noch nie. „Stefan, greif das Ding mal an. Das ist der Hammer!“
„Meinst du wirklich, das ist gut? Wir wissen doch gar nichts über dieses Ding.“ Stefan war skeptisch.
„Es macht nichts, es ist nicht giftig oder sowas. Im Gegenteil. Mir geht es sehr gut. Ich war noch nie so wach und vor allem noch nie so klar.“
„Du weißt doch gar nicht, wie sich das langfristig auswirkt. Es kann doch zu Spätfolgen oder sowas kommen. Ich finde, wir sollten das nochmal untersuchen.“
„Unsinn! Das macht nichts. Es ist einfach wundervoll und tief beeindruckend.“ Jens war noch immer überwältigt von seinem Erlebnis.
„Du sagst, das Ding macht nichts und erzählst dann davon, was es alles gemacht hat. Das ist doch überhaupt nicht stimmig. Ich finde, wir sollten da wirklich vorsichtig sein. Das Ding macht nämlich ganz deutlich etwas, es hat dich innerhalb von wenigen Sekunden davon überzeugt, das es total harmlos ist, obwohl es dich eine ganz außergewöhnliche Erfahrung machen ließ.“
„Okay, ich verstehe, was du meinst. Möglicherweise hast du recht mit deinem Misstrauen. Wir können vielleicht nochmal recherchieren, wir wissen jetzt ein bisschen mehr.“
„Was wissen wir denn jetzt mehr als vorhin? Das Ding ist eine Kapsel, die aus Quadraten und Dreiecken gebildet wird und zieht Wurzeln, wenn sie im Wasser liegt.“
„Mensch, Stefan, manchmal stehst du wirklich auf dem Schlauch. Wir wissen, dass dieses Ding Visionen auslöst. Halluzinationen hast du gesagt. Ich würde es nicht halluzinieren nennen, denn die Erfahrung war absolut real. Aber wir können in dieser Richtung nochmal das Internet heranziehen. Das liefert jetzt bestimmt bessere Ergebnisse.“
Sie verbrachten den ganzen Nachmittag und Abend mit Recherche in Stefans Zimmer, tranken Bier, aßen Chips und entdeckten eine ihnen bis dahin völlig unbekannte Welt. Sie lasen über halluzinogene Pilze, einen Tee aus einer Lilianenart und Blättern mit halluzinogener Wirkung, über einen Naturstoffchemiker namens Albert Hofmann und seine Entdeckung des LSD. Sie entdeckten Foren, Podcast und Filme zum Thema Halluzinogene. Sie waren fasziniert und irritiert zugleich.
„Es gibt eine weltumspannende Community, die sich ausschließlich mit halluzinogenen Substanzen beschäftigt, austauscht, Meetings und Kongresse abhält, die forschen und nach Einsatzmöglichkeiten suchen und wir wussten davon nichts? Das ist echt erstaunlich. Eine ganze Subkultur, völlig offen im Internet zugänglich und genau dadurch verborgen“, sagte Jens.
„Das ist es in der Tat. Faszinierendes Thema. Wirklich hochspannend. Aber richtig weiter hat uns das jetzt trotzdem nicht gebracht. Was das Ding in unserer Küche ist, wissen wir immer noch nicht. Es ist keine Liliane und kein Pilz. So viel ist sicher.“
„Lass uns mal nachsehen. Vielleicht sehen wir dieses Mal mehr.“ Stefan schloss das Notebook und stand auf. Als die beiden die Küche betraten, bekamen sie wirklich mehr zu sehen. Die Kapsel hatte in den vergangenen Stunden eine erstaunliche Entwicklung durchlaufen. Ihre Wurzeln hatten sowohl an Anzahl als auch an Länge enorm zugelegt. Sie waren weit über den Becher, der in der Spüle stand, hinaus gewachsen, hatten sich am Beckenrand festgekrallt, hielten den Wasserhahn umschlungen, wuchsen bereits an der Wand entlang und eine große Zahl der Wurzeln suchte ganz aktiv nach Halt, indem sie sich wie Tentakeln hin und her bewegten. Die Kapsel selbst war gewachsen. In ihrer Mitte pulsierte Licht, sanft und regelmäßig, deutlich sichtbar.
„Wow!“ Jens traute seinen Augen nicht. „Das haut mich jetzt echt um.“
Stefan hatte es vor Staunen völlig die Sprache verschlagen.
Für einen Moment standen die beiden da und betrachteten die Szene. Immer, wenn eine der Wurzeln sich neuen Halt verschafft hatte, bildeten sich an ihren ihrem Ansatz zwei neue Wurzeln, die mit sichtbarer Geschwindigkeit wuchsen. Dadurch wuchs das ganze Gebilde, das war den Jens und Stefan sofort klar, immer schneller und schneller.
„Das ist mir unheimlich“, waren Stefans erste Worte, nachdem er die Sprache wiedergefunden hatte.
„Mir auch. Komm, wir entsorgen das Ding einfach. Ab in den Müll“ Jens machte einen Schritt auf das Spülbecken zu, doch Stefan hielt ihn am Arm zurück.
„Tolle Idee! Du weißt doch, was passiert ist, als du das Ding das letzte Mal angefasst hast. Außerdem: Im Müll findet es wahrscheinlich genau die Nährstoffe, die es braucht und wächst dann noch schneller. Kaffeesatz, Eier- und Obstschalen. Wir müssen es eher verbrennen als wegschmeißen.“
„Wir haben Gummihandschuhe zum Putzen. Lass uns die anziehen. Dann können wir sie gleich anbehalten, wenn die Sauerei hier entfernt ist und die Küche und das Bad sauber machen. Das ist überfällig. Du hast diese Woche deinen Putzdienst nicht gemacht.“ Jens ging zur Besenkammer
„Ja, weil du deinen vorletzte Woche nur ganz oberflächlich gemacht hast. Ich dachte, du seist noch nicht fertig und wollte dir die Chance lassen, dich zu verbessern.“
„Schwätzer! Um auf die Kapsel zurückzukommen: Viele Nährstoffe scheint die nicht zu brauchen. Die hat doch gar nichts. Außer dem Wasser, in dem sie liegt.“ Jens reichte Stefan ein Paar Putzhandschuhe.
„Und du nicht? Warum nur ich?“
„Wir haben nur das eine Paar und du bist mit Putzen dran.“
„Da sind doch noch so Latexhandschuhe zum Wegwerfen. Jetzt sei nicht so und hilf mir. Das ist eine außergewöhnliche Situation“, sagte Stefan.
„Okay, okay. Ich helfe dir, aber nicht, dass das zur Regel wird und ich dir jetzt immer beim Putzen helfen muss, weil die Situation außergewöhnlich ist.“
„Das Außergewöhnliche an dieser Situation ist, dass dieses Ding tatsächlich aus dem Nichts Biomasse zu produzieren scheint. Die hat nur Wasser, sonst nichts.“ Stefan rückte die Kapsel wieder in den Mittelpunkt.
„An dem Wasser allein kann es nicht liegen, dass das Ding so abgeht.“
„An was soll es denn sonst liegen?“
„Das weiß ich auch nicht, aber wenn du dich erinnerst, haben wir das Ding im Wald gefunden. Kurz davor hat es geregnet und alles war klitschnass. Dennoch hat es da keine Wurzeln gezogen oder auch nur sonst auf irgendwas reagiert.“ Jens hatte schon seit einigen Minuten die besseren Argumente, was ihm gut tat. Normalerweise war es anders herum. Stefan mussten die Vorgänge sehr irritieren.
„Gut. Wir machen das Ding jetzt ab und verbrennen es. Es wird wirklich ständig größer. Das ist mir wirklich zu freaky.“
„Wo willst Du das denn verbrennen?“
„Unten im Garten. Auf dem Grill“, sagte Stefan.
„Damit die Nachbarn denken, wir sind jetzt total bekloppt und grillen im Oktober? Herzlichen Dank!“
„Es ist mir im Moment scheißegal was irgendwelche Nachbarn denken. Schau dir mal dieses Ding hier an. Das wird größer und größer und diese Tentakeln oder Wurzeln oder was das sind halten sich überall fest. Los jetzt!“
Die beiden näherten sich dem organischen Gebilde, das unmittelbar reagierte. Alle Wurzeln, die sich noch nicht mit einem Gegenstand der Umgebung verbunden hatten, richteten sich auf Stefan und Jens aus.
„Was für eine Freak-Show!“ Stefan machte einen Schritt zurück.
„Guck mal, das Ding tut dir nichts.“ Jens hatte einer der Wurzeln seinen Finger gereicht. Die Wurzel legte sich sanft um den Finger und wuchs in die Länge.
„Pass bloß auf!“
„Das fühlt sich echt cool an. Ganz sanft.“
Stefan trat heran. Auch seine Hand wurde von einer kleinen Wurzel umschlungen und in der Tat fühlte es sich wunderbar an. Ganz sanft und weich. Stefan wurde es ganz warm und wohlig. Er sah Jens an, sah, wie sich die Wurzel um dessen Arm schlang, sah, wie Jens ihn ansah, sah, wie die Wurzel Jens am Hals berührte, sah Jens weit die Augen öffnen und fühlte, wie auch ihn etwas am Hals berührte. In diesem Moment leuchtete ein Licht von unglaublicher Intensität direkt in seinem Kopf. Und als das Leuchten nachließ, da sah er Konturen, Formen, eine Landschaft, ganz fremd und anders als das, was er kannte. Er sah nach links, sah merkwürdige Pflanzen, sah nach oben, sah einen roten Himmel an dem zwei Sonnen schienen, er sah nach rechts. Er sah Jens.
„Wo sind wir?“ So oder so ähnlich fragte der eine den anderen. Doch weder Jens noch Stefan konnten eine plausible Antwort liefern. Fest stand für die beiden nur, dass alles hier real war. Der Boden, auf dem sie standen, war real. Er fühlte sich an wie Erdboden, war aber blau. Und er war real, denn sie standen schließlich darauf. Er gab ihnen Halt, musste also real sein. Die beiden Sonnen, die am Firmament standen waren real. Sowohl Jens als auch Stefan konnten sie sehen, der eine konnte zum anderen sagen: „Siehst du auch zwei Sonnen?“ Und der andere antwortete dann „Ja! Total abgefahren! Zwei Sonnen, total real!“ Und auch über den roten Himmel konnten sie sich in gleicher Weise verständigen. Es war real, denn sie konnten darüber sprechen, sich austauschen, sie machten die gleichen Erfahrungen. Eine Erfahrung war, sich leicht zu fühlen. Als Jens zu Stefan laufen wollte, war es mehr ein Schweben. Er hob den Fuß und mit ihm hob sich sein ganzer Körper, ganz leicht. Mit nur einem solchen Schritt war Jens bei Stefan, der mehrere Meter von ihm entfernt stand. „Wow!“, entfuhr es Jens.
„Was ist das hier für ein Ort?“ Stefan war das ganze unheimlich, während sich Jens an all dem Außergewöhnlichen freute. „Lass uns doch mal eben nachdenken“
„Guck mal, ich kann extrem hoch springen“, sagte Jens und tat es. Ohne Mühe schaffte er einen Sprung von mehreren Metern.
„jetzt lass den Scheiß und denk mal mit.“ Stefan war zwar beeindruckt, hatte aber größeres Interesse an der Frage nach dem Ort ihres Aufenthalts.
„Du willst wissen, wo wir sind? Ist doch klar wo wir sind. Wir sind auf einem anderen Planeten.“
Stefan lachte laut. „Klar. Und wie sind wir hier hergekommen? Jetzt rede keinen Unsinn.“
„Wie wir hier hergekommen sind, weiß ich auch nicht. Aber da man auf der Erde keine zwei Sonnen sieht, da der Himmel dort blau und nicht rot bis rosa ist und da man mit Erdgravitation nicht einfach mal so drei, vier Meter in die Höhe springen kann, lässt dies eigentlich nur den Schluss zu: Wir sind nicht auf der Erde.“ Jens schien es ernst zu meinen.
„Die Argumentation geht mir viel zu schnell.“
„Was ist denn das letzte, an das du dich erinnern kannst?“ Stefan setzte auf eine systematische Untersuchung der Vorgänge.
„An dein blödes Gesicht, als du gesehen hast, dass ich einfach so zwei Meter hoch springen kann.“ Jens hatte für Systematik im Moment nichts übrig. Er lachte.
„Jetzt sei doch mal ein bisschen ernsthaft.“
„Also gut. Die Wurzel von diesem Dings hat sich um meinen Finger geschlungen. Das fühlte sich gut an. Ich wollte ihn eigentlich wieder zurückziehen, aber das ging irgendwie nicht. Mit einem Mal gab es ein helles Licht und ich war hier. Dann habe ich mich ein bisschen umgeschaut, und was sehe ich? Lauter wunderbare Dinge und deine Nase. Das war ernüchternd.“
„Du bist manchmal echt ein Depp.“
„Ist hier auf jeden Fall besser als so ein öder Herbstspaziergang. Es ist warm, es ist schön und es ist alles neu.“
„Lass uns hier ein bisschen umsehen. Auch wenn wir nicht genau wissen, wo ‚hier‘ ist. Mir ist das alles unheimlich.“
Die beiden machten sich auf den Weg. Allerdings geriet diese an sich recht einfache Unternehmung hier zu einem komplexeren Unterfangen. Bedingt durch die geringe Schwerkraft wurde ihr Gehen mehr zu einem unfreiwillig komischen Hüpfen.
„Lange mache ich das nicht mit“, meinte Stefan.
„Ach komm, sei nicht so! Sonst bist du doch auch für Spaziergänge.“
„Mit tut von der Hüpferei der Rücken weh! Und richtig was zu sehen gibt es auch nicht. Nur diese komischen Riesenbäume da hinten am Horizont.“
„Normalerweise bin ich derjenige, der bei Spaziergängen meckert.“ Jens erinnerte sich an den Spaziergang im Wald, wo diese Geschichte ihren Ausgangspunkt nahm, und seine schlechte Laune, als er übers regennasse Laub neben Stefan herstakste.
„Die Riesenbäume sehen unserem Ding in der Küchenspüle aber verdammt ähnlich, findest du nicht? Nur halt viel größer. Lass uns das mal genauer ansehen.“
„Hauptsache die Hüpferei hat dann ein Ende.“ Die Rollenverteilung zwischen Stefan und Jens hatte sich inzwischen komplett umgekehrt.
Tatsächlich hatten die einzelnen, pflanzenartigen Gebilde, die dort in der Ferne wie ein Wald beisammen standen, nahezu die gleiche Gestalt wie das Gewächs, das Stefan und Jens aus ihrer Küche kannten. Sie waren nur viel mächtiger, größer. Und sie sahen aus, als wären sie horizontal gespiegelt. Wurzeln und Krone waren identisch. Die Äste vollführten wie die Wurzeln Bewegungen. Doch im Gegensatz zu den Wurzeln, die sich nach rechts und links bewegend nach Halt suchten, war es bei den Ästen eine Bewegung von unten nach oben. Fast sah es aus, als bewegten sie sich in einem heftigen Wind, doch an dem Ort, an dem Stefan und Jens sich befanden, wehte kein Lüftchen.
Beim Näherkommen fanden die beiden Freunde den Boden übersät mit den merkwürdigen Kapseln, die sie erst gestern an einem ganz anderen Ort in diesem Universum auf einem Waldweg unweit ihrer Wohnung gefunden hatten.
„Schau mal Jens. Das sieht aber sehr bekannt aus.“
Jens wollte sich bücken, um eine der Kapseln aufzuheben.
„Tue das nicht. Du weißt, was letztes Mal passiert ist, als wir so ein Ding angefasst haben!“ Stefan war immer noch der Vorsichtigere von den beiden.
„Hat es nicht vielmehr uns angefasst?“, entgegnete Jens, der es trotz seines Vorwitzes unterließ, eine der Kapseln aufzuheben. „Ist ja interessant, was diese Bäume oder was auch immer das sind, da für einen Tanz aufführen.“
Die beiden wandten ihre Aufmerksamkeit den ausladenden Bewegungen der Äste zu.
„Wenn Du genau hinschaust, hängen an diesen Ästen immer einige der Kapseln, die hier überall rumliegen. Siehst du das, Jens?“
„Klar sehe ich das. Aber warum quatscht du mich mit Namen an, ist doch außer uns niemand hier, Stefan.“ Jens grinste.
Vor ihnen schlug ganz langsam eine Kapsel auf, sprang bedingt durch die geringe Schwerkraft noch ein paar mal auf und blieb dann schließlich liegen. Und dann kurz darauf fiel in der gleichen Weise noch eine vor Jens und Stefans Füße und etwas später noch eine.
„Die Äste schleudern diese Kapseln durch die Gegend. Sind wohl doch sowas wie Samen.“ Stefan suchte weiter nach Erklärungen. „Es kommen nur nicht alle wieder runter. Es müsste hier eigentlich Kapseln regnen, bei den Bewegungen, die diese Bäume da ausführen. Aber es fällt immer nur mal wieder eine auf den Boden.“
„Vielleicht kommen die einfach nicht wieder zurück, weil die Schwerkraft hier so gering ist.“
„Du meinst, die verschwinden einfach in den Weiten des Alls? Das wäre aber eine ziemlich dämliche Weise der Fortpflanzung. Im All wächst nämlich nichts, aber Darwin gilt da auch.“ Stefan fühlte sich wieder obenauf.
„Klugscheißer.“
„Jens pass auf!“
Doch es war zu spät. Eine Wurzel hatte sich um Jens‘ Beine geschlungen. Stefan hatte es gesehen, was er aber nicht gesehen hatte, war, dass sich auch um ihn bereits eine Wurzel schlang. Stefan sah Jens an, Jens sah Stefan an. In Stefans Kopf entzündete sich ein helles Licht.
Als er einen Moment später die Augen öffnete, fand er sich neben Jens in der Küche ihrer gemeinsamen Wohnung wieder.
Leblos und schlaff hing die Wurzel an ihnen. Jens streifte sie vorsichtig ab. Nichts passierte bei dieser Berührung.
„Jens! War das real?“
„Ich muss mich erst mal setzten, bevor ich auf so schwierige Fragen antworten kann. Haben wir das gleiche erlebt?“ Jens nahm sich einen Küchenstuhl, Stefan lehnte sich an die Wand und verschränkte die Arme. Er begann, seine Erlebnisse zu schildern. Jens nickte schon nach den ersten Worten zustimmend. Ja, sie teilten die gleichen Erfahrungen, sie hatten dasselbe erlebt, jeder aus seiner Perspektive. Sie waren zusammen ‚dort‘ gewesen.
„Was machen wir jetzt mit diesem Erlebnis?“
„Keine Ahnung. Ich kann das überhaupt nicht einordnen“, meinte Stefan.
„Wir sind zusammen auf einem anderen Planeten rumgehüpft.“
„Stimmt, diese Hüpferei. Wie absurd. Waren wir denn wirklich dort? Physisch waren wir doch die ganze Zeit eigentlich hier in der Küche, oder?“
Jens schüttelte den Kopf. „Wo wir physisch waren, ist vielleicht gar nicht so wichtig.“
„Du meinst, nur das Erlebte zählt? Vielleicht hast du recht. Allerdings verstehe ich immer noch nicht, warum das alles passiert ist. Es fühlt sich alles nach Bedeutung an, aber ich kann keine entdecken. Wir halluzinieren uns ein Irgendwo, wo irgendwelche Riesenpflanzen Kapseln ins All schleudern, die so aussehen wie die Kapsel, die wir im Wald gefunden haben. Das ergibt alles gar keinen Sinn.“
„Mensch Stefan, doch! Das ergibt Sinn.“ Jens wurde plötzlich ganz euphorisch. „Wenn eine Lebensform auf einem anderen Planeten mit anderen Lebensformen auf anderen Planeten Kontakt aufnehmen will, dann ist es doch am besten, sie schickt erstmal Informationen, ohne selbst den Weg auf sich zu nehmen.“
„Das meinst du doch jetzt nicht ernst?“ Stefan runzelte die Stirn.
„Doch doch! Und die Information wird nicht als Text oder sowas verschickt, sondern als Erfahrung. So muss nicht erst etwas entschlüsselt werden. Außerdem ist es sicher. Falls die entdeckte Lebensform aggressiv ist, bekommt sie nur die Information, dass es auf anderen Planeten Leben gibt, aber sie erfährt nicht wo.“
„Schön und gut. Also. Diese Pflanzen werfen ihre Kapseln ins All, wo sie dann mit vielleicht zehn, fünfzehn Stundenkilometern unterwegs zu anderen Planeten sind. Das klingt extrem plausibel.“
„Ich gebe zu, es fehlen noch ein paar kleine Bruchstücke in meiner Theorie …“
Stefan fing an zu lachen. „Ein paar kleine Bruchstücke. ‚Theorie‘ nennst du das. Soso.“
„Jetzt lach mich nicht aus. Es ist immerhin eine Idee und damit besser als das, was du hast. Du hast nämlich gar nichts. Nur große Einfallslosigkeit.“
„Ist ja gut. Also. So eine Kapsel reist durchs All, übersteht alles, den Eintritt in die Erdatmosphäre ohne zu verglühen und völlig intakt, und landet vor unseren Füßen.“
„Vor meinen Füßen“, korrigierte Jens.
„Vor deinen Füßen. Und woher merkt die Kapsel dann, dass sie angekommen ist und ihre Botschaft verbreiten darf?“
„Durch die DNA, ist doch klar.“
„Wie dumm von mir! Logisch, die DNA. Das ist jetzt aber wirklich alles sehr spekulativ. Dafür gibt es nicht den Hauch eines Beweises. Du hast einfach zu viel Science Fiction gelesen.“
„Man muss das natürlich noch wissenschaftlich überprüfen. Lass uns das Ding doch nochmal angucken.“
Stefan und Jens wendeten sich dem seltsamen Gewächs in ihrem Spülbecken zu. Zu ihrer Überraschung waren inzwischen alle wurzelähnlichen Auswüchse verschwunden, ohne auch nur eine Spur hinterlassen zu haben. Und die Kapsel selbst schien nach und nach zu verblassen. Es war, als verliere sie ihre Substanz, wurde durchsichtiger und mit einem Mal war sie ganz verschwunden.
„Das gibt es doch nicht. Jetzt ist sie weg. Vor unseren Augen weg.“ Jens schlug sich mit der Hand an die Stirn. „Wie sollen wir jemals beweisen, was uns passiert ist?“
„Keine Ahnung.“
„Und nun?“
„Ich weiß nicht. Lass uns aufräumen.“