Wir sehnten uns nicht nach der Veranstaltung, zu der wir eingeladen waren. Im Gegenteil waren es zahlreiche Befürchtungen, die wir uns bunt und immer bunter ausmalten, bis aus den Befürchtungen erheiternde Fragmente einer von uns beiden fortgeschriebenen Erzählung wurden, mit der wir versuchten, uns vom Bevorstehenden abzulenken und uns gleichzeitig auf es einzustimmen. Wir erwarteten Skurriles. Schon die Auswahl des Ortes war für mich unverständlich. Doch auch die Nachfrage bei Sebastian, warum sein Freund seine Hochzeit ausgerechnet auf Teneriffa begehen wollte, erbrachte zwar viel Text, der mir zu hören aufgegeben wurde, erklärte aber nichts, denn er musste schließlich zugeben, es ebenfalls nicht zu wissen. Wir hatten es dabei noch gut getroffen, denn unsere Flugzeit zum Ort der Festlichkeit betrug von unserem Wohnort aus etwa vier Stunden, die der anderen geladenen Gäste betrug geschätzt das dreifache, denn viele mussten aus Kalifornien, einige aus dem Staat New York und ein kleiner Teil aus anderen Bundesstaaten der USA anreisen, mit Zwischenstops, Verspätungen, Jetlag und allen sonstigen Unannehmlichkeiten, die eine zeitgemäße Interkontinentalreise so zu bieten hat. Unsere Anreise war im Vergleich zu derartigen Strapazen ein Kinderspiel, einfach und schlicht. S-Bahn, Flugzeug, Taxi, da.
Was wir zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht wussten, war, dass unsere Irrfahrt über die kanarische Insel am kommenden Hochzeitstag nochmals in etwa die Flugzeit betragen würde, denn die Finka, in der die Zerermonie mit anschließender Feier abgehalten werden sollte, lag zwar idyllisch, aber von versteckt zu reden, käme einer unglaublichen Beschönigung gleich. Davon ahnten wir am Anreisetag noch nichts, was gut war, denn so konnten wir etwas entspannen und unsere heitere Geschichte mit dem Titel “Kommende Ereignisse” am Hotelpool fortstricken. Doch die Teile, die Sebastian beitrug wurden immer ernster, das Heitere und Skurrile war ihm abhanden gekommen, bis er schließlich zu erzählen begann, was ihn besorgte. Er würde, so fürchtete er, auf ein früheres Leben treffen, auf eines, dessen Sinn und Bedeutung ihm inzwischen aber abhanden gekommen, ja, von dem er nun verstand, dass da niemals Sinn und Bedeutung vorhanden gewesen war. Er war sich unschlüssig, ob er an diesen Lebensstil erinnert werden wollte. Sein am kommenden Tag zu verehelichender Freund Andrew war 29, Vater von zwei Kindern, die er mit unterschiedlichen Partnerinnen gezeugt hatte, wobei er sich beim zweiten nicht allzu sicher war, ob die Vaterschaft tatsächlich ihm zuzuschreiben war, denn einhergehend mit einem nicht nur sexuell ausschweifendem Leben war sein Konsum von psychotropen Substanzen, insbesondere Kokain, Alkohol und Ecstasy enorm hoch. Besonders erinnerungsfördernd waren diese Substanzen nicht, insbesondere der Alkohol riss von Zeit zu Zeit Löcher enormen Ausmaßes in Andrews Gedächtnis. Seinen ausschweifenden Lebensstil finanzierte Andrew mit dem Bemalen von Gesichtern. Er war einer der gefragtestenn Visagisten in einem bestimmten Segment des Unterhaltungsgeschäftes. Keine Pop-Ikone, kein Pop-Ikönchen und kein sonstiges Produkt der popproduzierenden Industrie der inzwischen nicht mehr ganz so neuen Welt, das nicht durch sein Bepinseln zu einem gewissen Strahlen gebracht worden wäre. Das ließ sich Andrew gut bezahlen, wobei das Geld, so wie es ihm zufloss, auch wieder abfloss. Andrew besaß eigentlich nichts außer seinem Lebensstil. Eine allerdings sehr angenehme Form der Armut.
Andrews künftige Ehefrau Susan, so erzählte Sebastian weiter, habe sich die Ehe unter andrerem durch das Vortäuschen eines psychischen Zusamenbruchs in Zusammenhang mit dem vermeintlichen Tode ihrer Mutter erschlichen. Andrew hatte sie wegen irgendeinem Produkt der Pop-Industrie mit weiblicher Erscheinung sitzen lassen, Susan hatte den Tod ihrer Mutter ersonnen, ein Dramulett höchster Qualität mit Suizidversuch und allem Drum und Dran inszeniert, Andrew dadurch zurückerobert, woraufhin sie ihre Mutter auf wunderbare Weise von ihrem Tode auferstehen ließ. Zur unmittelbaren Stärkung ihrer Bindung hatte Susan im Anschluss heimlich die Pille abgesetzt und sich von Andrew schwängern lassen. Für diesen wurde Susans Schwangerschaft so das zweite medizinische Wunder innerhalb weniger Wochen, das er zu verkraften hatte. Er hatte allerdings Substanzen zur Hand, die ihm bei der Verarbeitung halfen. Nach einigen Tagen heftigen Substanzgebrauchs war es ihm eigentlich egal, was die Wahrheit war. Es schien ihm viel zu mühsam, sich mit so etwas Lapidarem wie Fakten beschäftigen zu müssen. Vielleicht war ja was dran und sein Sohn wäre so etwas wie eine Art unbefleckter Empfängnis mit Pille und er der liebe Gott. Und kurz bevor seine Serotoninvorräte durch MDMA komplett zur Neige gegangen waren, fühlte er bedingt durch eine letzte, verzweifelte Ausschüttung des Transmitters die tiefe, warme und ganz weich sich anfühlende Verpflichtung Susan zu heiraten.
Sebastian schloss seinen Bericht über das Zustandekommen des Eheschlusses, dem wir morgen beizuwohnen hatten, damit, dass Andrews Leben schon immer derart chaotisch verlaufen war, dass auch seines in seiner Zeit, als er engen Kontakt pflegte, diesem nicht unähnlich war, dass er aber, seit er sich davon abgewandt hatte, möglichst wenig daran erinnert werden wollte. Er sei nach Europa gekommen, um genau diesem Chaos zu entfliehen und sein Leben in geordnetere Bahnen zu lenken. Eine möglichst große geographische Distanz schien im dazu unabdingbar. Dass der lose Kontakt, den er via Email und diversen sozialen Netzwerken zu Andrew und einigen anderen vormaligen Freunden aufrecht erhalten hatte, eine Einladung nach sich ziehen würde, die er nach gründlicher Abwägung nicht ausschlagen konnte, hatte er einfach nicht erwartet.
Meine Situation war demgegenüber viel einfacher. ich hatte zwar ursprünglich zugesagt, Sebastian zu begleiten, verspürte dann aber keine Lust, ein verlängertes Wochenende mit mehreren Stunden Flug und einer Hochzeit zu füllen, auf der ich niemanden kannte, auch wenn die Wetterverhältisse auf Tenereiffa mich ursprünglich sehr gelockt hatten. Sebastian hatte es dann doch verstanden, mich zu überzeugen, ihn zu begleiten. Zumal er wieder und wieder deutlich machte, wie wenig ihm selbst an der Reise gelgen war. Gemeinsames Leid ist geteiltes Leid, und geteiltes schönes Wetter ist doppelte Freude. Das war der Beschluss, den die Reise für uns beide dann doch reizvoll machte.
Sebastian hatte am darauf folgenden Tag kurzfristig zu seiner heiteren Stimmung zurück gefunden. Wir hatten das Gefühl, uns würde ein Abenteuer bevorstehen. Kurz nach dem Frühstück begann es auch schon und sorgt wiederum für Stimmungswandel, denn Sebastin erhielt eine Email, die besagte, dass sich die Hochzeitsgesellschaft nicht wie geplant in der Nähe der Inselhauptstadt Santa Cruz de Teneriffe versammeln würde. Es habe ein kleines Missverständnis gegeben, denn der Vermieter der Villa, in der die Hochzeit ursprünglich abgehalten werden sollte, war, wie sich zur Überraschung der Verlobten und des Weddingplaners herausstellte, nicht der Eigentümer. Der Eigentümer wiederum hatte die als Vermieter auftretende Person gar nicht zur Vermietung autorisiert. Zumindest würde das der Eigentümer behaupten, während der Vermieter wiederum das Gegenteil behauptete. Man wäre den genauen Abläufen jedoch auf der Spur, denn man hätte ja auch schon im Voraus bezahlt, es wäre aber im Moment nicht so klar, bei wem das Geld gelandet sei. Sowohl vermeintlicher Vermieter als auch vermeintlicher Eigentümer würden versichern, niemals auch nur einen Cent erhalten zu haben. Jedenfalls, so setzte sich die Email fort, sollte man sich keine Sorgen machen, denn der Weddingplaner, ein ganz wundervoller Freund aus Ohio, hätte bereits eine wundervolle und zentral gelegene Alternative gefunden. Die Adresse und eine genaue Wegbeschreibung würde in einer weiteren Email in wenigen Minuten folgen.
Sebastian sagte etwas Unhöfliches, in dem unter anderem das Wort “typisch” vorkam. Tatsächlich erhielt er zwei Stunden später, es ging bereits auf Mittag zu, eine weitere Mail, mit einer sehr vage gehaltenen Wegbeschreibung. Man konnte sie in zweifacher Weise auffassen. Eine erste Deutung besagte, die Villa, in der die Hochzeitszeremonie in wenigen Stunden abgehalten werden sollte, läge im Zentrum der Inselhauptstadt Santa Cruz de Teneriffe. Die zweite und die nach Sebastians Einschätzung wahrscheinlichere Lesart ergab, dass die Hochzeitsgesellschaft irgendwo im Zentrum der Insel zusammen kommen würde. Das höhere Maß an Wahrscheinlichkeit ergab sich für Sebastian weniger aus dem Inhalt als vielmehr aus der Tatsache, dass die zweite Variante die für alle Beteiligten wesentlich umständlichere und insgesamt absurdere war. Sebastian hatte keine hohe Meinung von Andrew und auch das Wenige was da an Höhe vor einigen Stunden noch verblieben sein mochte, war im Begriff dahinzuschwinden.
Statt eine weitere Email zu schreiben, sann Sebastian darauf, das Verfahren abzukürzen, und griff zum Telefon. Es ging niemand ran. Sebastian hatte eine erste, noch recht wohl temperierte Aufwallung. Ich versuchte für Abkühlung zu sorgen, indem ich die beiden möglichen Deutungen mit Kartenmaterial aus dem Internet verglich, aber schnell war ich dabei, einfach nur ziellos drauf loszuklicken. Das Chaos der anderen begann sich auf uns zu übertragen. Dann fand ich allerdings mehr oder weniger zufällig eine Möglichkeit, den Weg unserer Deutungsvariante 2 mit dem Weg der Deutungsvariante 1 zu verbinden. Wir konnten also durch das Zentrum der Inselhauptstadt fahren, falls sich die beschriebene Villa dort nicht finden lassen würde, konnten wir nahezu ohne Umweg unseren Weg einfach ins Zentrum der Insel fortsetzen und würden dann, so nahm ich an, dort auf das Brautpaar und die Gäste stoßen. Es galt nur, nun auch zügig aufzubrechen, denn falls sich Deutungsvariante 2 als richtig erweisen sollte, waren wir schon recht spät dran. Das trug wiederum nichts zum Wiedererreichen von Sebastians Ruhe und Gelassenheit bei, denn nun wurde es hektisch. Das von Andrew und Susan mühsam ausgearbeitete Chaos war nun vollständig über uns gekommen.
Duschen, anziehen, ab ins Auto und los. Nach einer Fahrt von zwanzig Minuten erreichten wir das Ziel von Deutungsvariante 1 und was soll ich sagen? Lieber nichts. Wir fuhren einfach weiter. Schweigen. Nach etwa fünf Kilometern begannen wir zu lachen.
Unser Lachen verebbte und gab einer anderen Stimmung Raum. Sebastian setzte zu einer zweiten, nicht mehr ganz so wohltemperierten Gefühlsaufwallung an. Er wiederholte das schon Gesagte, gab dem Ganzen aber eine andere emotionale Tönung. Während seine erste Aufwallung noch ins warm Gelbliche tendierte, war diese zweite ein schon ziemlich heißes Glutrot. Immerhin war die Landschaft ganz schön, doch auch sie wechselte nach und nach ihr Erscheinungsbild, wurde immer rauer und zerklüfteter, als müsste sie ein Abbild für Sebastians Stimmung werden. Doch Landschaft und Stimmung sind nur als Stilmittel in Romanen und Erzählungen wohlverknüpft. Auf unserer Fahrt ins Zentrum der Insel wechselte Seabstians Stimmung erneut, wurde wieder sanftmütig und heiter, während die Landschaft draußen weiterhin rau und kantig blieb. Ein Beweis dafür, dass es sich bei diesem Text nicht um eine Erzählung handelt.
Ich war Beifahrer und konnte mich ganz der Betrachtung der vorbeiziehenden Landschaft überlassen. Viel Spannendes zu sehen gab es nicht, im wesentlichen handelte es sich um Vulkangestein. Das wird auf die Dauer langweilig. Meine Augen wurden schwer und ich kämpfte einen inneren Kampf gegen das Einschlafen. Jetzt wegzudösen hätte ich aber unhöflich gefunden, ohne genau benennen zu können, warum. Allerdings war es für ein Nickerchen inzwischen eh zu spät, da wir uns nun dem Ort näherten, von dem wir vermuteten, er könne unser Ziel sein. So ganz sicher waren wir uns da immer noch nicht. Was allerdings für diesen Ort sprach, war die Tatsache, dass sich zwischen all dem öden Vulkangestein einige Menschen fanden, die offensichtlich zwei weiteren Autos entstiegen waren. Beim Näherkommen sagte Sebastian etwas, das ich nicht so genau verstand. Es hörte sich an wie “Oh nein! Nicht diese dumme Kuh!”
Ungeachtet der eben gemachten Bemerkung wurde die blöde Kuh wenige Augenblicke später von Sebastian aufs herzlichste mit Küsschen links und rechts begrüßt. “So good to see you!” Meine Begrüßung fiel da wesentlich unterkühlter aus, denn ich begrüße blöde Kühe nicht euphorisch.
Wir wurden den Mitreisenden aus den beiden Autos vorgestellt. Sebastian kannte zwei weitere Personen, ich niemanden. Alles war extrem nice und wonderful. Lachen hier, lächeln da, überall überschäumende Freundlichkeit mit einem penetranten Beigeschmack nach Plastik. Die gezeigten Zuneigungen fühlten sich in etwa so echt an, wie die Brüste der drei anwesenden Frauen sich echt angefühlt hätten, wenn man sie begrabscht hätte. Das tat niemand, denn es war dafür unter anderem zu heiß und der Tag noch nicht fortgeschritten genug, aber das Ergebnis solchen Ertastens wäre eindeutig gewesen. “Gemachte Möpse” ist die umgangssprachliche Bezeichnung für diese sichtlich teuren sechs Vorzeigeexemplare der plastischen Chirurgie.
Die blöde Kuh hatte wahrscheinlich die teuersten. Sie fand es unglaublich toll, endlich, endlich wieder bei all den netten Menschen in dem wunderschönen und so malerischen Italien zu sein. Ich setzte zu einem Grinsen an, doch Sebastian warf mir einen sehr intensiv durchdringenden Blick zu, der mir jede Form der Intervention, Korrektur oder auch nur des offensichtlichen Amusements verbat. Schade, es fing gerade an unterhaltsam zu werden. Also stand ich weiter unbeteiligt in der Vulkanlandschaft herum und guckte wunderschöne, malerische Steine an. Wie sich später herausstellte, konnte die blöde Kuh zumindest die Insel, auf der sie sich befand, dem richtigen Kontinent zuordnen.
Es gesellten sich noch weitere Wagen zu unserer kleinen Gesellschaft dazu, das Begrüßungs- und Vorstellungszeremoniell mit den immer gleichen Lachern an den immer gleichen Stellen wiederholte sich entsprechend oft. Es begann mich zu langweilen, denn ich hatte das Prinzip verstanden und war bereit für neue Erfahrungen. Die bereiteten sich auch unmittelbar vor, denn ein Taxi näherte sich, der Fahrer stieg aus und verkündete in sehr gebrochenem Englisch, wir sollten ihm folgen. Also nochmals ein bisschen Umarmung und Bussi, Hej und Ho, alle wieder rein in die Autos, los. Die Kolonne setzte sich in Bewegung. Wir fuhren dem Taxi hinterher, es ging bergab in Richtung Bewaldung.
Ich fragte Sebastian, aus welchem Grund wir uns jetzt auf offener Straße mitten im Nirgendwo mit den anderen Gästen getroffen hatten. Er wusste es ebensowenig wie ich. Ich machte mich ein bisschen über die blöde Kuh lustig, die meinte, in Italien zu sein. Sebastian stieg nicht darauf ein, meinte im Gegenteil ganz unkomisch, ich solle vorsichtig mit meinen deutschen Regungen sein, das könne missverstanden werden. Ich überlegte einen Moment, ob ich beleidigt sein sollte, entschied mich aber dagegen.
Wir fuhren ein bisschen hin und her, hoch, überwiegend aber eher hinunter, bogen von schmalen Straßen auf noch schmalere und von dort auf Wege und Pisten ab, um schließlich, unser GPS machte uns darauf aufmerksam, jenseits kartografierten Geländes im Nirgendwo zu landen. In dieses Nirgendwo hinein hatte jemand vor langer langer Zeit eine beachtliche Finca errichten lassen, die vor etwas kürzerer Zeit um einen ebenso beachtlichen Pool und eine weitläufigen, parkähnlichen Außenanlage ergänzt worden war. Uns wurde bedeutet, zu parken. Wir tatens, stiegen aus und wurden am Eingang mit Sekt empfangen. Der Taxifahrer machte sich auf den Weg, denn es waren noch mehrere Gruppen von Feierwilligen abzuholen. Wie inzwischen zu erfahren war, erwartete man etwa einhundertfünfzig Personen im Nirgendwo. Wir waren inzwischen knapp zwanzig, es konnte also noch eine Weile dauern.
Nach einem kleinen Rundgang durch die Anlage fand ich Sebastian angeregt plaudernd bei der blöden Kuh. Ich gesellte mich dazu, kam aber offenbar zur Unzeit. Das Thema war, wie es Sebastian in Deutschland gefiel. Sebastian ließ in seiner Beschreibung des und der Deutschen kein Klischee aus, malte jedes noch schreiend grell an und entließ es dann in den Gehörgang seiner Zuhörerin. Dort kitzelte es sie, entlockte ihr ein Kichern. Sie fragte nach, ob das alles auch wirklich, wirklich! so sei, was Sebastian beteuerte, noch einen drauf setzte, woraufhin sich das Kichern zum Lachen auswuchs, das nach einer weiteren Bemerkung Sebastians ins Höhnische kippte. Warum Sebastian das tat, wusste ich nicht zu sagen. Jedenfalls hatte seine Beschreibung des Deutschen mit seiner tatsächlichen Erlebniswelt reichlich wenig zu tun, denn seine Kontakte mit Inhabern eines deutschen Personalausweises hielten sich in ganz überschaubaren Grenzen. Eigentlich gab es da nur mich und ich hatte mit dem von ihm skizzierten Bild des Deutschen keinerlei Überschneidung. Ansonsten gab es da nur noch sporadische Kontakte mit Taxifahrern, die meist damit endeten, dass Sebastian beleidigt war, weil er Absicht unterstellte, dass sie den Straßennamen, den er nannte, nicht verstanden. Dabei war es tatsächlich schwer, aus seinen Lautungen auf eine tatsächliche Benennung zu schließen. Es benötigte zumindest ein gehöriges Maß an Fantasie. Fantasie aber ist nicht notwendige Voraussetzung für das Ergreifen des Jobs des Taxifahrers, Ortskenntnis ist da hinlänglich.
Jedenfalls wünschte ich, ich hätte der eben erlebten Szene nicht beigewohnt, denn sie war recht peinlich. Ich schämte mich für Sebastian und rätselte, was ihn zu diesem reichlich kulturchauvinistischen Unsinn bewogen haben mag.
Für den Fortgang des Abends, und das mag auch der ausschlaggebende Grund für Sebastians Entgleisung abgegeben haben, galt er als Experte für Deutschtum. Von diesem eben erworbenen Expertenstatus machte er zur Erheiterung seines Publikums noch mehrfachen Gebrauch. Ich versuchte nicht hinzuhören, was mir aber nur bedingt gelang. Zu groß war die Diskrepanz zwischen Sebastians tatsächlich recht ghettoisiertem Dasein in einem recht isolierten Umfeld mit Menschen mit ausschließlich gleichen Interessen und seinem jetzigen Auftreten als Kenner deutscher Sitten und Gebräuche, die es in der beschrieben Form vermutlich nie gegeben hat und gegenwärtig mit absoluter Sicherheit nicht gibt. Und natürlich, ja! wie sollte es anders sein? Im Herzen alles Nazis. Es mag das Arische in mir gewesen sein, das mich im Innern zu einem Spaziergang drängte, weg vom Ort der Peinlichkeit.
rgend etwas war gerade schief gelaufen. Sebastian erzählte unglaublichen Unsinn und ich ärgerte mich nicht nur darüber, sondern fühlte ein beklemmendes Gefühl von Scham in mir aufsteigen. Ich schämte mich für ihn, wusste aber nicht zu sagen warum. Wenn er Mist erzählt, ist das doch eigentlich sein Problem. Natürlich lag er mir am Herzen, uns verband eine intensive Freundschaft und natürlich war mir in den Jahren der Freundschaft nicht entgangen, dass der Erwerb von interkultureller Kompetenz nicht gerade Sebastians Hobby war. Sebastian war ein Amerikaner, der in Deutschland wohnte und in von ihm als pitoresk empfundenen europäischen Ambiente seine Gepflogenheiten lebte, ohne sich um irgendeine Form der Verständigung oder des Zugangs zu bemühen. Im Gegenteil war er unglaublich stolz darauf, auch nach Jahren in Deutschland, nicht ein Wort Deutsch zu können. Ich fand diese Form der Ignoranz und Selbstbeschneidung des Intellekts in der Regel ebenso kurios wie sympathisch, doch in eben diesem Moment hatte sie einen merkwürdig tiefen Schnitt hinterlassen, aus dem es merkwürdig heftig blutete. Sebastian war, das wusste ich, ein Fachmann auf seinem Gebiet. Und Sebastian war, das wusste ich auch, außerhalb dieses Gebietes an der Grenze zur Naivität unwissend. Außer ein paar Fachzeitschriften gab es in Sebastians Leben, keine Zeitung, keine Nachrichten, keine Informationsquellen außerhalb von Facebook. Doch dass er jetzt auf seinen Aufenthalt in Deutschland befragt nur ein paar Naziklischees zusammenzutragen wusste, schockierte mich.
Ich nahm auf einer gepolsterten Gartenbank platz. Der schöne Ausblick in die Landschaft sollte mich ablenken. Ich wollte auf andere Gedanken kommen. Einen Moment später kamen zwei Hochzeitsgäste, Anfang zwanzig vielleicht, setzten sich ungefragt zu mir und bauten einen Joint. Nachdem er ein paar mal zwischen ihnen hin und her gewechselt war, wandten sie sich an mich. Ob ich auch mal wollte? Ich wollte nicht.
Cannabisrauch lag schwer in der Luft. Die beiden jungen Männer fragten, in welchem Verhältnis ich zum Brautpaar stünde. In gar keinem, war meine Antwort, denn ich wäre die Begleitung von Sebastian, der wiederum ein enger Freund des Bräutigams sei. Die beiden fanden das unglaublich spannend, wobei mir nicht ganz klar war, worin genau das Spannende bestand.
Da ich nun dem Umfeld des Bräutigams zuzuordnen war, der als Visagist ganz groß in der Musikbranche rummalte, wurde abgeklappert, ob ich die neuesten Videoproduktionen, für die er den Pinsel geschwungen hatte, auch auswendig konnte. Konnte ich natürlich nicht, im Gegenteil sagten mir die Namen der Künstler und überwiegend Künstlerinnen gar nichts, welche von den beiden andachtsvoll aufgesagt wurden.
Das Gespräch wurde schleppender. Zum einen mag das an der mangelnden Kompatibilität der Themen gelegen haben, zum anderen aber sicher auch am THC. Nach einem Moment des Schweigens, in dem ich mich wieder der Schönheit der Landschaft widmen konnte, wurden mir einige der genannten Videos zur Betrachtung empfohlen. Ich dankte. Landschaft. Woher ich sei, war die nächste Frage. Ich antwortete wahrheitsgemäß. Das wäre total cool. Die beiden wollten auch immer schon mal nach Deutschland. Ich meinte, sie seien ja noch recht jung, da würde sich sicherlich mal eine Gelgenheit finden. Landschaft, diesmal etwas mehr. Ob es in Deutschland denn auch eine große Musikbranche gäbe, wollte man wissen. Ich nahm es mal an, zumindest würde einem Musik allenthalben ungefragt entgegentröten. Noch mehr Landschaft. Ob ich nichts mit Musik zu tun hätte. Ich bejahte das. Landschaft. Was ich denn so machen würde. Ich arbeite in der Drogenhilfe, sagte ich, stand auf und ging.
Warum ich so ausgesprochen zickig reagiert hatte, wusste ich gar nicht zu sagen. Im Grunde hatte ich nichs gegen kiffende Postadoleszenten, im Grunde tat es mir auch schon wieder leid, im Grunde war es auch nicht persönlich gemeint. Ich fühlte mich hier lediglich unwohl. Im Grunde war es einfach eine Scheißidee auf eine Hochzeit von mir völlig unbekannten Amis auf eine kanarische Insel zu fliegen.
An einem Punkt angelangt, an dem ich bereit war, einfach alles um mich herum abgrundtief scheiße zu finden, traf ich auf Sebastian. Er hatte am Pool Platz genommen. Er sah mich kommen, lächelte und meinte “toll hier!” Ich hatte vergessen, ihn über mein Angepisstsein zu informieren. Da zumindest er ausgesprochen gute Laune zu haben schien, ich fühlte sie diametral zu meiner, entschloss ich mich, es zunächst dabei zu belassen. Meiner emotionalen Unpässlichkeit würde ich auch später noch Gelegenheit einräumen können, sich ausführlich darzustellen. Zudem strömte die gesamte Hochzeitsgesellschaft inzwischen den in der prallen Sonne aufgebauten Stuhlreihen zu. Es hatte den Anschein, der offizielle Teil würde nun kurz bevorstehen.
Es gab keine ersichtliche Sitzordnung, keine Namenskärtchen auf den Stühlen, die so aufgestellt waren, dass die Stuhlreihen einen Mittelgang frei ließen. Dennoch schienen einige der Gäste ganz konkrete Vorstellungen davon zu haben, wer wo zu sitzen habe. Ich hatte mich eben neben Sebastian auf einen der wenigen beschatteten Stühle in der vorletzten Reihe gesetzt, da nötigte uns eine gereiftere Dame mit langem, dunklen Haar und wallendem schwarzen Kleid in einer der vorderen Reihen Platz zu nehmen. Ihre Haut trug alle Zeichen chronischen Sonnenbadens und ihr Lächeln, das von hohen Zahnarztrechnungen erzählte, ließ das Schädelhafte hervortreten. Schön war das nicht, auch wenn es so gemeint war. Woher sie ihre Autorität bezog, uns hier vom Schatten in die pralle Sonne zu setzen, blieb mir zunächst verborgen. Sebastian klärte mich später auf. Sie war die dritte Frau des Vaters von Andrew, also Andrews Stiefstiefmutter. Die Hochzeitsgesellschaft wurde noch eine Weile sitzgeordnet, dann ging es endlich los. Aus Lautsprechern dröhnte der Hochzeitsmarsch und als wären alle Gäste plötzlich von einem einzigen Bewusstsein gesteuert, drehten sie gleichzeitig die Köpfe, in die Richtung, in der das Brautpaar seinen Auftritt hatte. “Ach Du meine Güte, eine Junkie im Smoking”, dachte ich, als ich den Bräutigam neben seiner Braut sah, die sich mit jedem Schritt nicht nur ihrer Vermählung, sondern auch ihrer Niederkunft näherte.
Als Andrew näher kam, war ich mir ziemlich, als er direkt an mir vorbei zog, ich ihn daher unmittelbar sah, war ich mir absolut sicher. Andrew modulierte seinen Gefühlshaushalt mittels intensiven Substanzgebrauchs. Ein Bilderbuchjunkie, der allerdings seine Honeymoonphase hinter sich hatte. Seine Gesichtszüge, seine blasse, wächserne Haut, sein Gang, seine Haltung, alles an ihm erzählte von den Substanzen, den weißen und braunen Pulvern, den Tabletten und Flüssigkeiten. Man sah es ihm an, es gelang ihm immer weniger, die Hochgefühle zu erreichen, in das jeweilge Substanzglück einzutreten, zu dem die Wirkstoffe ihm einst die Türen weit aufgestoßen hatten. Es ging zunehmend um Leidensvermeidung, wenn ihm der Rauch die Lungen füllte, sich eine Nadel in die Vene senkte, die Tabletten ihre Chemie in seinen Magen entließen. Mit einem einzigen Blick wurde die ganze Geschichte offensichtlich. Mit dem Blick auf den Bräutigam verschob sich aber auch mein Blick auf die Hochzeit. Mit dieser neuen Einsicht in die Hintergründe wandelte sie sich plötzlich von einer feierlichen Zeremonie zu einem Versuch der Immitation dessen, was sich das Brautpaar und dem Terminus “normal” vorszustellen vermochte. Die Hochzeit hier auf den Kanaren, so schien es mir nun, war eine Art unbewusstes Rettungsprogramm, ein Strohhalm, der den Versuch einer Anbindung an so etwas sein sollte, was die beiden für gewöhnliches Leben hielten. Das mag ihnen inzwischen ebenso erstrebenswert erscheinen, wie sie es vor einiger Zeit noch verlacht hatten, und wie dieses gewöhnliche Leben, ein einziger Blick auf den Bräutigam genügte, für diese jetzt zu begründende Partnerschaft unerreichbar sein würde.
Das Brautpaar schritt den Weg ab, langsam, denn würdevoll wollten sie wirken und das schien ihnen unmittelbar mit langsam in Verbindung zu stehen. Doch der Weg war uneben, eine Grasnarbe mit allen Tücken versehen, die eine High-Heels-Trägerin fürchtet. Und das, was Susans Füße zierte, waren Kunstwerke in High-Heels. Zarte Bänder hielten ein waghalsiges Konstrukt an ihren Sohlen. Mit einiger Vorbereitung konnte mit dieser beeindruckenden Schöpfung eines fußverliebten, passionierten Schuhdesigners ein roter Teppich von einer gut geübten Trägerin eindrucksvoll und medienwirksam abgeschritten werden. Bei einer Schwangeren, die versuchte, sich durch festen Griff am Arm eines Junkies zu stabilisieren und über einen zwar gepflegten, aber dennoch natürlich unebenen Rasen stackselte, erweckte der Gang beim Betrachter ein Oszillieren zwischen besorgniserregend bis hin zu komisch. Doch ohne sich eine ernsthafte Verletzung zuzuziehen schaffte Susan den Weg zum Traualtar. Auch Andrew ging dabei nicht verloren. Dort angekommen wurde die Musik langsam ausgeblendet.
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Nichts weiter passierte.
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Es gab eine Stockung. Andrew und Susan vor dem Altar, das Publikum in wartender Erregung, aber etwas Wichtiges fehlte. Richtig, der Priester war nicht an seinem Platz. Und nahezu im selben Moment, in dem man den Fehler im Bild erkannte, bog ein Mann in schwarzem Anzug mit weißem Kragen um die Ecke des alten Bauernhauses. Er stellte sein Weinglas auf den Traualter und sagte “Sorry guys!”
Der dunkel gekleidete Herr hielt es zunächst für nötig, sich der versammelten Gemeinde als Sam vorzustellen, um ihr dann die Geschichte von der Gnade Gottes zu erzählen, die es möglich gemacht hatte, an diesem herrlichen Tag zusammenzukommen, an diesem herrlichen Ort, mit diesen herrlichen Menschen, aus diesem herrlichen Anlass, und so weiter und so fort. Die Sonne brannte mir auf mein herrliches Haupt und ich wäre dem lieben Gott ganz dankbar gewesen, wenn er, vielleicht auch sie oder gar es die Güte gehabt hätte, die Temperatur ein bisschen zu drosseln. Allein er oder vielleicht auch sie oder gar es hatte diese Güte nicht. Es blieb heiß.
Sam erzählte uns, wie glücklich er sei, gerade dieses Paar zu trauen. Er reihte eine nicht enden wollende Zahl an Superlativen aneinander, um das Besondere an Susan, Andrew und ihren jeweiligen Familien herauszustreichen. Doch die Rhetorik des Exzeptionellen bewirkte, nachdem sie einmal einen Höhepunkt überschritten hatte, das genaue Gegenteil des Intendierten. So außergewöhnlich konnte kein Hochzeitspaar, keine Familie der wirklichen Welt sein, wie der Priester es hier versuchte, uns darzustellen. Es wurde unglaubwürdig und sank dadurch unter das Gewöhnliche herab. Allerdings schien das Hochzeitspaar die Lobpreisungen zu genießen. Sie lächelten sich an.
In regelmäßigen Abständen nippte Sam an seinem Glas, wobei ihm wohl entgangen war, dass Gott eines seiner zahlreichen Wunder bereits gewirkt und die Flüssigkeit in Sams Glas mittels Hefekulturen und Zucker schon längst in Wein gewandelt hatte. Nach jedem Superlativ nahm Sam einen weiteen Schluck, wodurch sich in dem Maße, wie seine S-Laute zunehmend verschwammen, sich seine Euphorie steigerte.
Flüsternd fragte ich Sebastian, ob eine Ehe auch dann gültg ist, wenn der Pfarrer zum Zeitpunkt der Trauung rotzbesoffen war. Sebastian zuckte mit den Schultern.
Schließlich drohten Sam die Superlative auszugehen. Der Wein und die Sonne forderten ihren Tribut. Ohne Überleitung, beinahe brüsk und nur mit einem “Lets do it” vorangestellt fragte er nach, ob die beiden wirklich bereit seien, auf Leben und Tod zusammen zu beiben, was sowohl Susan als auch Andrew trotz der sehr weitreichenden Konsequenzen lächelnd bejahten. Dann sprach Sam die magische Formel, die dem Zusammensein von Andrew und Susan die göttliche Anerkennung verlieh. Sie tauschten die Ringe, küssten sich und ich dachte, es sei überstanden. Es mag wiederum eine Wirkung des Weins gewesen sein von dem nach einem Moment der Mattheit sich Sam nun erneut beflügelt fühlte und zu einer Rede über die Gnade Gottes, das von Gott gesegnete Land und seine Menschen anhob. Es war eine wirre Mischung aus religiösem Fundamentalismus christlicher Ausprägung und Chauvinismus. Gott würde in besondere Weise auf die Menschen in diesem Land herab blicken, wobei Sam in seinem Suff wohl entgangen war, dass er sich nicht in den USA sondern auf einer kanarischen Insel und damit in Spanien befand. Doch selbst wenn es ihm jetzt jemand gesagt hätte, es wäre ihm als vernachlässigbares Detail erschienen und letztlich scheißegal gewesen.
Zwei Tage zuvor erst hatten Sebastian und ich eine Unterhaltung über religiöse Rituale geführt. Uns beiden waren ganz unabhängig von der jeweils zugrunde liegenden Religion die mit Religion einhergehenden magischen Praktiken, das mit dem Wort “beten” nur leicht verkleidete Aufsagen von Zaubersprüchen, der Glaube daran, irgendjemand oder irgendetwas würde beständig in den Kleiderschrank, auf den Teller oder ins Schlafzimmer, ja, auf jede einzelne Handlung gucken, um sie zu werten, uns beiden war all dies so unglaublich unpassend für das technologische hochgerüstete 21. Jahrundert vorgekommen.
Wir waren in unserer Unterhaltung auf Kant und die Aufklärung gestoßen, auf die selbst verschuldete Unmündigkeit, auf Nietzsche, der die Gebäude und Institutionen der Religion von Gott verlassen sah, und auf Ludwig Feuerbach, der im Nachklang des Deutschen Idealismus konstatierte, dass nicht der Mensch eine Schöpfung Gottes, sondern vielmehr anders herum, Gott eine Schöpfung des Menschen sei. Wir hatten Voltaire gestreift und ich hatte Goethes Prometheus “Ich kenn’ nichts ärmres unter der Sonn’ als euch Götter! …” versucht für Sebastian ins Englische zu übertragen. Wir hatten uns gewundert, warum trotz einer langen Tradition der Religions- und Gotteskritik Religion und Glaube immer noch eine zentrale Rolle spielte, sowohl im Großen und dann bis hinein in den Alltag. Die Argumente all der Aufklärer und Kritiker waren ja nicht widerlegt worden. Warum musste ich ständig auf irgendwelche religiösen Gefühle Rücksicht nehmen? Warum durfte ich nicht in lautes Lachen ausbrechen, wenn mir jemand zu verstehen gab, er glaube daran, dass man vor mehr als zweitausend Jahren ohne Sex zu haben, Kinder kriegen konnte und er unter anderem deshalb einer Form des rituellen Kanibalismus anhängt, wobei er tatsächlich glaubt, beim Verzehr des Fleisches seines Herrn gingen irgendwelche Kräfte auf ihn über? Warum durfte ich nicht sagen, dass ich den Glauben an einen unendlichen Gott für unendlich infantil hielt, ohne mit einer ernsten Beschwerde und Konsequenzen für beispielsweise mein Berufsleben rechnen zu müssen? Warum musste ich Rücksicht nehmen und meine Äußerungen kontrollieren und filtern, während andere jedweden Unsinn äußern durften, ja mit dem Hinweis auf ihren Glauben jedweden Unsinn vom Einheilten abstruser Kleiderordnungen bis hin zur Gesundheitsgefährdung für sich und andere sogar tun durften, ohne sich rechtfertigen zu müssen? “Das ist meine Religion”, reichte als Legitimation für die bizarrsten Verhaltensweisen und als Legitimation für selbst den abgrundtiefsten Hass auf alles Andersartige und Fremde.
Und warum war ich nun hier im Nirgendwo einer kanarischen Insel und hörte mir das national-chauvinistische, religiöse Gefasel eines besoffenen Pfaffen an, stand nicht auf und sagte nicht laut und deutlich “sag mal, hast Du sie eigentlich noch alle?”
Innerhalb von kurzer Zeit war ich nun das zweite Mal ziemlich angepisst. Es war dringend an der Zeit, Sebastian an meinem Gefühlsleben teilhaben zu lassen. Ich zischelte ihm mein Befinden ins Ohr und erwartete Widerspruch. Zu meiner Überraschung blieb der aus. Im Gegenteil bekam ich Unterstützung. Sebastian fand das eben pfaffenseitig Geäußerte über alle Maßen peinlich, wie er mir versicherte. Mein individuelles Erleben ging im Gemeinschaftlichen auf, das Ich trat zugunsten eines Wir zurück, das zwar aus nur zwei Personen bestand. Dennoch wirkte es auf mich, als würde der Fluss meiner Empfindung nun in ein breiteres Bett strömen und käme so zur Ruhe. Durch diese Entlastung war es plötzlich möglich, die Worte Sams vorbei ziehen zu lassen, ohne ihnen Aufmerksamkeit schenken zu müssen, und ich konnte so die klerikalen Rhetorikfolter mit einiger Gelassenheit sich ihrem Ende nähern lassen. Insgesamt war ich inzwischen deutlich milder gestimmt und daher auch wieder in der Lage, die Schönheit der uns umgebenden Landschaft wahrzunehmen. Sams Pfaffengeseier trat in den Hintergrund.
Wenige Augenblicke später setzte Sam endlich einen Schlusspunkt unter seine religiös-ideologischen Ausführungen. Die Trauung war vollzogen, das Zusammensein von Andrew und Susan nun auch göttlicherseits legitimiert. Die eben noch durch die Sitzreihen geordnete Hochzeitgesellschaft brachte sich in einen lockereren Zusammenhang, dem Paar wurde gratuliert, Fotos wurden gemacht, allgemeines Händeschütteln und Umarmen. Sebastian und ich suchten im Schatten einer Pinie Schutz vor der Sonne. Es war auch der Moment, in dem wir uns über das eben Gehörte austauschten und feststellten, dass unsere Haltung gegenüber Religionen, die uns in diesem Moment alle gleichermaßen fundamentalistisch und verkorkst erschienen, weitgehend identisch war.
Nicht uns allein war der beschattete Platz attraktiv vorgekommen. Eine immer größer werdende Zahl von Gästen suchte in dem schmalen Streifen Schatten Schutz vor der Sonne. Da man so eng beisammen stand, wurde viel gesprochen. Man war ja auf einer Hochzeitfeier, einem freudigen und geselligen Anlass. Das Aussehen der Braut wurde besprochen und allgemein gewürdigt, der Bräutigam wurde ebenfalls für seine Erscheinung gelobt, schließlich das Paar in seiner Gesamterscheinung. Die Predigt wurde genauer in Augenschein genommen, herzergreifend sei sie gewesen, wundervoll, beseelt von tiefer Wahrheit. Sebastian sah mich an. Ich sah zurück.
Aus der uns umgebenden Menge löste sich Andrews Stiefstiefmutter, jene hochgewachsenen Frau mit der sonnengegerbten Haut und dem teuren Memento-mori-Lächeln, das sie in dem Moment wieder aufsetzte, in dem sie auf Sebastian zueilte. Sie sei ja so erfreut, dass er gekommen sei. Wirklich großartig fand sie es, herausragend und ganz ehrlich spitze. So glücklich sei sie, Sebastian wiederzusehen. Es sei so gut, ihn jetzt hier zu haben. Es müsse ja jetzt Jahre her sein seit ihrem letzten Kontakt, wie Jahrzehnte fühle es sich an. Sie hielt Sebastians Hände und lächelte ihn an. Dieser Moment des Schweigens ihrerseits war Sebastians Chance etwas zu sagen. Er ergriff sie und stellte uns vor.
Kate war ihr Name und sie fand unmittelbar in ihren euphorischen Zustand zurück. Hocherfreut wäre sie, mich endlich kennen zu lernen. Es wäre ja ihr Liebstes, neue Freunde auf der ganzen Welt zu machen. Jetzt hätte sie mich und damit einen Zugang zum alten Europa. Ich müsse ihr unbedingt mehr von mir und meinem Leben hier auf diesem Kontinent erzählen, auch wenn sie schon so viel über mich gehört hätte, dass sie jetzt schon das Gefühl habe, wir seien alte Freunde, würden uns unglaublich gut kennen und sie hätte schon alles verstanden, was mich betreffe.
Ich fragte mich, von wem sie schon so viel über mich gehört haben konnte, schließlich hatte sie doch eben gesagt, sie hätte seit mehreren Jahre keinen Kontakt mit Sebastian gehabt. Ansonsten kannte mich hier niemand. Als ich mir nach kurzem Nachdenken diese Frage beantwortet hatte, fühlt ich ihre Hände in meinen. Sie stand mir gegenüber und lächelte mich an. Für einen Moment standen wir reglos, wie sie eben mit Sebastian gestanden hatte. Ich wusste mit dieser Situation nichts anzufangen und hätte mich gern entzogen. Sie schien sich dagegen ausgesprochen wohl zu fühlen, ihr Blick auf mich wurde mit jedem Moment glänzender.
Eine Rauchwolke, die intensiv nach Marihuana roch, befreite mich. “Das müssen die Jungs sein, die sich was gönnen”, meinte sie und löste ihren Griff. Das Lächeln blieb. Der Geruch erinnere sie an ihre Jugend. Sie wolle es den Kindern daher nicht verbieten. Zudem hätte sie ja nur ihren Mann und seine Jungs, siebzehn und einundzwanzig seien die jüngeren beiden und dann sei da ja noch Andrew, der Bräutigam, ein ganz besonderer Schatz. Alle aus den ersten beiden Ehen ihres Mannes. Ihr sei es ja leider nicht vergönnt, selbst Kinder zu haben. Sie wolle daher eine besonders gute und verständnisvolle Stiefmutter sein, weltoffen und den Entdeckerdrang ihrer Schützlinge in keinem Fall hemmen. Und Marihuana, das wisse ja nun jeder, wäre ja in keiner Weise schädlich. Außerdem hätte ja jeder so seine Helferlein. Wer sagt schon zu einer guten Flasche Wein ‘nein’? Und ohne ihr Prozac, ihr Diazepam und all dem anderen wäre sie psychisch ein einziges Wrack. “Aha”, dachte ich mir. “Daher weht der Wind.”
Kate wandte sich das Thema wechselnd an Sebastian. Ob wir denn schon mit ihrem besonderen Liebling Andrew gesprochen hätten, wollte sie von ihm wissen. Sebastian verneinte, was Kate zum Anlass nahm, Sebastian an ihre linke und mich an ihre rechte Hand zu nehmen. “Ich bringe euch zu ihm.” Sie führte uns in Richtung Haupthaus. Susan stand seitlich am Haus, umringt von Gästen. Sie lachten, der Stoff von Susans Kleid wurde befühlt und offensichtlich für gut befunden. Kate ließ meine Hand los und winkte Susan zu, Susan winkte zurück. Kates Lippen formten lautlos das Wort “Andrew” wobei sie mit dem Finger in Richtung Haus deutete. Während Susan zu einer Bemerkung lächelte, die eben zu ihrem Kleid gemacht wurde, nickte sie Kate zu. Kate ergriff meine Hand und führte Sebastian und mich ins Haus. Wir durchquerten zügig das Foyer und das anschließende Wohnzimmer. Kate klopfte an eine Tür, die sie ohne eine Antwort abzuwarten öffnete. Wir blickten auf Andrew und sahen, wie er ein kleines Tütchen in seiner Anzugtasche verschwinden ließ.
“Andrew mein Schatz, schau wer da ist. Sebastian und ehh …” Sebastian half mit meinem Namen aus. “Ich lass euch drei Jungs mal alleine, Ihr habt sicher einige Jungs-Geheimnisse auszutauschen, die mich gar nichts angehen und die ich auch gar nicht wissen will”, meinte Kate, die sich daraufhin zurück zog. Mir war nicht ganz klar, welche Geheimnisse ich mit einem mir nahezu Unbekannten austauschen sollte. Unmittelbar darauf ging es auch gar nicht um Geheimnisse. Andrew wiederholte die “So-good-to-see-you”-Nummer, die Kate vor einigen Minuten draußen aufgeführt hatte nun hier im Zimmer. Zunächst mit Sebastian, dann mit mir. Der Unterschied bestand allerdings in einer deutlich stärkeren Körperlichkeit. Andrew drückte, herzte und küsste zunächst Sebastian und dann mich. Er tat dies trotz unserer relativ jungen Bekanntschaft ganz ausgiebig und intensiv. Neben einem recht deutlichen Geruch von Alkohol und Zigaretten nahm ich noch den eines teuren Eau de toilettes und den von Erbrochenem wahr.
Dann ging es plötzlich doch um Geheimnisse. Andrew fragte, ob wir Lust hätten, Folie zu rauchen. Er zog das Plastiktütchen aus seiner Tasche, in dem sich ein braunes Pulver befand. Kate hätte zwar nichts gegen Kiffen, Ecstasy und Speed. Auch Kokain würde sie tolerieren, wenn es nicht zu häufig wäre. Aber mit Heroin könne sie leider nichts anfangen, einmal wäre sie deswegen sogar richtig ausgetickt, weshalb es besser wäre, wenn wir die Tür nun abschließen würden.
Nur zu gerne hätte ich die Tür geschlossen. Von außen. Allerdings ging alles viel schneller als gedacht. Andrew hatte offensichtlich schon alles vorbereitet. Folie, Feuerzeug und das Inahalationsröhrchen warteten in der Schublade seines Nachttisches auf ihre Verwendung. Andrew setzte sich auf das Bett. Und nachdem er das Heroin aus seiner Tasche genommen und eine ihm genehme Menge in die Vertiefung der Alufolie geschüttet hatte, erhitzte er es, bis sich das Pulver zu einer braunen, öligen Flüssigkeit gewandelt hatte. Jetzt zog er die Dämpfe durch das Röhrchen tief in seine Lungen. Die Wirkung schien sofort einzutreten. Entspannt sank er zürück auf die Kissen, und mit dem Schlag, den die Substanz den Synapsen seines Hirnes verabreichte, hörten seine Hände auf zu zittern, weiteten sich seine Pupillen und senkte sich ein Lächeln auf seine Gesichtszüge.
“Seid ein bisschen gesellig”, meinte Andrew, wobei er uns die Utensilien reichte. Nichts rechtfertigte in diesem Moment den Einsatz eines hochpotenten Analgetikums. Wir entschieden uns daher fürs Ungeselligsein. Andrew zuckte mit den Schultern.
Ganz unabhängig von der Substanz bewirken Rauschzustände zweierlei. Dem Konsumenten stoßen sie eine Tür zu neuen Erlebnis- und Erfahrungswelten auf. Einsichten können gewonnen, persönliche Grenzen überwunden, soziale Ängste abgebaut und dadurch ganz leicht neue Bekanntschaften geschlossen oder schon bestehende vertieft werden.
Das zweite, was Rauschzustände bewirken, ist, dass sie jeden nüchteren Begleiter vor die Herausforderung stellen, sinnentleerte Laberattacken ertragen und sozial unverträgliches Verhalten abfedern zu müssen. Unter Umständen muss sofort deeskaliert werden und der Berauschte muss vor der unmittelbaren Umsetzung seiner Ideen in dessen eigenem Interesse abgebracht werden. Oft gegen enormen Widerstand.
In unserem konkreten Fall bestand die Herausforderung lediglich darin, Andrew nicht merken zu lassen, dass wir seinen Ausführungen darüber nur bedingt folgen konnten, wie schön alles, wie schön vor allem aber diese Hochzeit war. Die Herausforderung war also vergleichsweise gering.
Als wieder etwas Energie in seinen Körper zurückgekehrt war, wollte Andrew überquellend vor Emotion plötzlich zu seiner Susan, wollte ihr mitteilen, wie sehr er sie liebe, wie wichtig sie ihm sei. Das Anliegen war dringend, uns war es recht. Wir verließen das Zimmer.
“Sind hier eigentlich alle ständig drauf?”, wollte ich von Sebastian wissen.
“Vermutlich ja”, war seine Antwort.
Genau dies sei es, was ihn so besorgt hätte, meinte Sebastian, genau an dieses Leben wollte er nicht erinnert werden.
“Das sind doch hier alles nur Halb-, Dreiviertel- und Volljunkies. Die haben lediglich mehr Geld, so dass man es nicht sofort merkt, wie bei den abgerissenen bei uns am Bahnhof. Leider wissen sie mit dem Geld aber auch nichts anderes anzufangen, als es sich durch die Nase zu ziehen oder in Pillenform in den Hals zu werfen.”, sagte ich. “Was hat das schon mit dir zu tun?”
Augustinus Bekenntnisse waren ein ganz rudimentärer Versuch im Vergleich zu dem, was nun folgte. Sebastian bekannte.
Sebastian bekannte, dass alles schon in seiner Schulzeit angefangen hatte. Hier eine Pille zur besserem Konzentration, hier eine, die die Angst vor der Prüfung nahm. Jene, welche die Angst vor der Prüfung nahm, nahm ganz generell die Angst vor Versagen. Mit so einer Pille im Kopf konnte man leichter Kontakte knüpfen, auf andere zugehen, sicher auftreten, auch Lehrern gegenüber, um etwas rauszuschlagen. Es war Sebastians Mutter, die den Anfang gesetzt hatte, als sie ihn zu einem Psychiater schleppte, der für sein Vertrauen in die Erzeugnisse der pharmazeutischen Industrie bekannt war. Als Sebastian fünfzehn war, so erklärte er mir, kam das Potrauchen dazu, zur besseren Entspannung am Abend. Und für den Morgen danach gab es wieder was auf Privatrezept. Wenn sich ein Arzt auf seine Aufgabe besann und versuchte, Sebastians Medikamentenkonsum zu drosseln, wurde damit gedroht, den Arzt zu wechseln, und, falls das nicht fruchtete, wurde dies tatsächlich getan. Es gab an der Küste Kalifoniens weit mehr verschreibungswillige Ärzte als Surfschulen. Ärzte, die ein gutes Verhältnis zu ihren Kunden wertzuschätzen wussten, die für jede mögliche Empfindung, jede emotionale Irritation ein Mittelchen bereit hielten. Sofern dafür bezahlt wurde, versteht sich. In Sebastians Fall floss das Geld regelmäßig und üppig. Zunächst von seiner Mutter, später von ihm selbst. Sebastian wurde von seinem Arzt für seine unglaubliche Compliance gelobt, bis allen klar wurde, dass das Wort Compliance lediglich dazu diente, einen anderen Sachverhalt zu verschleiern. Den der Abhängigkeit, was aber niemand aussprach. Abhängig waren nur die Leute, die nicht genug Geld hatten, um ihre Sucht bedienen zu können. Es war aber genug Geld da. Kurz darauf reichte ein Arzt nicht mehr aus. Als er mit dem College abschloss, hatte er vier Psychiater, die ihm regelmäßig Medikamente verschrieben, die aber freilich nichts voneinander wussten. An den Wochenenden kamen Amphetamine, Ecstasy oder reines MDMA dazu. Ab und zu auch Kokain. Und Alkohol. Wodka, Wodka, Wodka.
Als er dann seine Produktionsfirma für Musikvideos gründete und diese aus dem Stand heraus erfolgreich war, fügte sich eins ans andere. Wie selbstverständlich schien ihm der Gebrauch all dieser Substanzen zu sein. Die Lieferanten für Kokain, Crack und Heroin, für Speed und Pillen gingen bei ihm ein und aus. Er, seine Kreativen, die Musiker und Künstler, alle mussten versorgt werden, um das auswerfen zu können, was verlangt wurde. Es gehörte einfach dazu und es wurde immer mehr. Manchmal wachte er irgendwo auf, Kopf in der Kotze, Filmriss. Er machte weiter. Dann zum ersten Mal Krankenhaus. Ein Arzt riet ihm zum Entzug. Er war empört, er war doch kein Junkie, hatte Geld. Was ein Arschloch! Weitermachen. Jemand hatte zu viel abbekommen, war tot. Weitermachen. Er selbst hatte zu viel abbekommen. Wiederbelebung. Weitermachen. Irgendwannn sei er von seinem Assistenten gefunden worden, halbtot nach fünf Tagen Party, Kokain, Speed, Meth, alles. Zum Runterkommen Valium und Heroin. Brisante Mischung. Sein Assistent war es, der ihn in eine Entzugsklinik verfrachtet hätte. Gegen seinen Willen eigentlich. Aber in den sechs Wochen Entzug sei etwas passiert. Danach war alles anders.
“Du hast einen Entzug gemacht?” fragte ich. “Das wusste ich gar nicht. Ich dachte, Du hättest nur mal so ab und zu was ausprobiert, wie jeder andere auch.”
“Habe ich ja auch nicht erzählt. Das ist nicht gerade das, worauf ich stolz bin in meinem Leben.”
“Dein Aufenthalt in Europa ist sowas wie eine Flucht?”
“Kann man wohl so sagen. Vielleicht auch lebensverlängernde Maßnahme, Neubeginn, Wiedergeburt. Keine Ahnung. Such dir was aus. Ich wollte nur das nicht mehr haben, was jetzt hier auf dieser Hochzeit passiert.”
“Wenn Du willst, gehen wir einfach.”
“Vielleicht eine gute Idee”, meinte Sebastian.
Wir hatten beschlossen, uns zu verabschieden. Je früher wir diese Hochzeitsfeier verließen, desto besser, denn es fing an, uns beide herunterzuziehen. Mich, weil mich die hier herrschende Mischung aus Gottesfurcht, Nationalismus und Drogenkonsum mehr als nur irritierte. Sebastian, weil sich bei ihm ein Riss auftat zwischen einem vertrauten Gefühl, das ihm fast so etwas wie Heimat war, und er gleichzeitig einen großen Widerstand spürte, dieser Sehnsucht nachzugeben.
Kate war die erste, der wir die Hand zum Abschied reichen wollten, denn wir liefen ihr gleichsam vor die Brust. “Ihr könnt unmöglich schon gehen”, war ihre Antwort. Statt Sebastians Hand zu nehmen, hakte sie uns links und rechts unter, versorgte uns mit reichlich Text im Tenor, wie unmöglich es für sie wäre, uns jetzt ziehen zu lassen, wo alles sich so harmonisch füge. Außerdem hätte sie uns ja noch gar nicht allen vorgestellt, was sie umgehend nachzuholen wünschte. Vor allem ihren Bruder, wo war er nur, wollte sie uns nicht vorenthalten. Ein ganz herausragender Mensch sei er, mit dem wir ganz sicher sofort Freundschaft schließen würden. Sie steuerte auf eine dunkel gekleidete Person zu. Mit jedem Schritt wurde ich mir sicher und immer sicherer, dass ich dieser Person unter keinen Umständen vorgestellt werden wollte. Es ließ sich dennoch nicht vermeiden.
“Sam, schau mal, wen wir hier haben!”
“Uhhhh…. The Germans! I am scared!” Sam setzte zu einem breiten Grinsen an, umarmte mich, wobei er mir auf die Schultern klopfte, und ich war mir sicher, dass ich eben dem dümmsten Menschen im ganzen Universum vorgestellt worden war.
Wir wurden genötigt, auf einer Bank Platz zu nehmen. Sam habe viel über Deutschland und die Deutschen gehört, ließ er mich wissen. Vieles sei sehr interessant, einiges aber beunruhigend. Ich warf einen Blick hinüber zu Sebastian in der Hoffnung, von dort Aufklärung zu erhalten. Der zuckte lediglich mit den Schultern. Wir wussten beide nicht, in welche Richtung ich betextet werden sollte.
Die Freheit des Glaubens, die Religionsfreiheit sei ein hohes Gut, das man nicht so einfach preisgeben dürfe, fuhr Sam fort, der gestisch ein Ausrufezeichen setzte, indem er einen kräftigen Schluck Wein zu sich nahm. Ich hatte noch immer keine Ahnung, was Sams Anliegen sein könnte, weshalb ich mit einem weiteren Blick bei Sebastian um Rat nachsuchte. Der hatte in diesem Moment die Augen weit aufgerissen. Er schien eine Idee zu haben, in welche Richtung sich unserere Unterhaltung entwickeln könnte, was ihn allerdings nicht gerade zu beruhigen schien.
Vom Wein beflügelt hatte sich Pastor Sam entschlossen, etwas weiter auszuholen. Er fing bei den Nazis an, um in sein Thema einzuführen. Die Nazis hätten ja unglaubliches Leid über Deutschland und die Welt gebracht, weil sie Andersgläubige, die Juden vor allem, verfolgt und ermordet hätten.
Ich runzelte die Stirn, denn dieser Satz verrrückte Geschichte in einer merkwürdigen Weise. Ich wollte einwenden, bei der Judenverfolgung sei es weniger um Religion als vielmehr um eine verschrobene Idee der Rasse gegangen, und das auch nur auf den ersten Blick. Worum es eigentlich gegangen sei, sei völlig unergründlich, was ja gerade den Schrecken … Zu etwas in dieser Richtung wollte ich anheben, durfte dies allerdings nicht einmal Ansatzweise ausführen, denn Sam sprach weiter auf mich ein.
Er hätte sehr wohl mein Strinrunzeln bemerkt, meinte Sam, man müsse sich aber seiner Geschichte stellen. Und zu meiner gehörten nun mal diese unfasslichen Untaten gegenüber der Religion. Ich versuchte, meine Stirnesfalte im Zaum zu halten, war mir aber nicht sicher, ob es mir gelang. Wenn er also heute höre, in Deutschland würden wieder Glaubensgemeinschaften staatlich überwacht und verboten, es würden Alternative Sichtweisen nicht zugelassen und aus den Schulbüchern verbannt, es würden Menschen gezwungen, ihren Glauben aufzugeben und Demonstrationen gegen den Staat Israel zugelassen, dann würde ihn diese Wiederholung der Geschichte zutiefst besorgen.
Ich hatte keine Ahnung, wovon dieser Mann sprach. Sebastian anscheinend um so mehr. Er biss sich auf die Unterlippe und seine ganze Körperhaltung sagte so etwas ähnliches wie “Au weia”.
Sam nahm einen Schluck Wein.
Es trat eine Pause ein. Sam sah mich an. Er wartete offensichtlich auf eine Reaktion. Eine Entschuldigung vielleicht oder einen brüsken Wutausbruch eventuell. Ich konnte weder mit dem einen noch mit dem anderen dienen, denn ich wusste noch gar nicht, um was es hier ging. Religiöse Verfolgung? In Deutschland? Die einzigen religiösen Dauerbrenner, denen ich mich spontan entsinnen konnte, waren die Fragen, wann und aus welchem Grund ein Kruzifix wo im öffentlichen Raum angebracht werden durfte und ob religiös motivierte Sackkleidung das deutsche Straßenbild eher verunziert oder bereichert. Hilfesuchend blickte ich zu Sebastian.
Sich an Sam wendend meinte er: “Das mit Scientology ist in Deutschland kommt in den deutschen Nachrichten nicht vor.”“Um so schlimmer”, meinte dieser und forderte mich auf, mich hier und jetzt zur Glaubensfreiheit zu bekennen. “Denn wer nicht für uns ist, ist gegen uns und unser Feind.” Er vergaß das Wort “Prost” hinzuzusetzten, denn nun war wieder ein kräftiger Schluck fällig.
Ich war verunsichert und suchte nach einem Weg, mich der Situation elegant zu entwinden. Ich hielte es hier mit Voltaire, meinte ich versuchsweise. Da der Pastor Voltaire nicht kannte, wagte ich einen Griff in meine Zitatenschatztruhe: „’Ich werde Ihre Meinung bis an mein Lebensende bekämpfen, aber ich werde mich mit allen Kräften dafür einsetzen, dass Sie sie haben und aussprechen dürfen.’“
Sams Gesichtfarbe glitt ins Rötliche hinüber. Wie ich Glaubensgewissheiten, die individuelle Erfahrung der Erweckung mit bloßer Meinung gleichsetzen könne, wollte er wissen. Ich holte Luft, um es zu erklären, kam aber nicht weit. Sams Stimme wurde deutlich lauter. Im Hintergrund sah ich Sebastian, der Gesten der Beruhigung machte. Ich wollte nicht streiten, doch die Situation drohte mir zu entgleiten.
Vom anderen Ende des Geländes hörten wir ein enormes Platschen gefolgt von lautem Lachen. Offensichtlich war einer der Gäste in den Pool gesprungen, gefallen, oder hineingeworfen worden. Ich wollte die Irritation nutzen, um mich zu entziehen. “Da scheint etwas passiert zu sein”, meinte ich und wollte aufstehen.
Sam hielt mich am Arm. So einfach entkäme ich ihm nicht. Ich sei ihm noch eine Antwort schuldig.
Jetzt floss es in mir über.
“Einem besoffenen Pfaffen bin ich keine Antwort schuldig! Ich will sie dennoch geben. Es gibt ein zentrales Problem, das die abrahamistischen Religionen, das Judentum, Christentum und Islam gemeinsam haben.” Sam sah mich an.
“Das den Dreien gemeinsame Problem ist ganz schlicht”, fuhr ich fort. “Es ist die Tatsache, dass es keinen Gott gibt. Und jetzt sofort loslassen!”
Sam tat es. Ich drehte mich um und verließ die unschöne Szene in Richtung Pool, in dem tatsächlich einer der Gäste angezogen lag und lachte.
Sebastian folgte mir. “Ich kann nicht glauben, dass du das gesagt hast.”
“Ich auch nicht! Ich sollte es aber öfter machen. Hat was Befreiendes. Scheiß auf Political Correctness. Diese Party hier ist doch der letzte Fuck!”
Allen Ernstes versuchte mir Sebastian einen Maulkorb zu verpassen. Was ich mir dabei denken würde, so etwas zu sagen? Einem Pfarrer zu sagen, es gebe keinen Gott.
Sebastian hatte offensichtlich erneut jedes Maß dafür verloren, was adäquat war.
“jetzt legt Du fest, wann ich was zu wem sagen darf?” Ich war absolut empört über Sebastians Verhalten. Er hatte mich auf diese miese Immitation einer Hochzeit im Nirgendwo geschleppt, ich fühlte mich nicht nur unwohl und fremd, sondern war kurz davor vor lauter hinuntergeschluckter und unverdauter Gefühlte ins nächste Gebüsch zu kotzen. Jetzt sollte ich auch noch zu einer Verbalattacke eines besoffenen Pfaffen ein nettes Gesicht machen. Das war weit mehr, als ich vertragen konnte.
“Ich wollte, Du würdest etwas mehr darauf achten, was du sagst!” Sebastian setze noch einen drauf.
“Ich glaube, du hast sie nicht mehr alle!”
Ich drehte mich um, und lief in Richtung Ausfahrt. Ich brauchte dringend Luft. Und einen Gegenstand, den ich werfen konnte, wovon allerdings niemand Zeuge werden sollte. Im angrenzenden Wald würde mein Bedürfnis nach Aggressionsabbau sicherlich Erfüllung finden.
“Wo rennst Du hin?” rief Sebastian mir nach.
Ich dachte etwas sehr Unhöfliches.
Die Ausfahrt war mit einem gusseisernen Tor verschlossen. Sebastian holte mich ein. Was das soll, wollte er wissen. Ich sagte ihm, ich hätte genug, die Party wäre für mich zu Ende. Wir wollten ohnehin schon längst gegangen sein.
Ich solle mich jetzt zusammenreißen und mein peinliches Verhalten einstellen, meinte Sebastian.
“Mein was?!”
“Das mit Sam eben, das war doch absolut peinlich! Die kennen mich hier doch alle!”
“Dass Sam mich attackiert hat und total besoffen ist, ist natürlich nicht peinlich. Dass Kate die Benzodiazepine fast schon aus den Augen quellen, ist natürlich auch nicht peinlich. Dass Andrew sich hier Heroin reinzieht, das ist auch völlig normal und weit jenseits von peinlich. Und wenn Susan auf dem Weg zum Traualtar wegen ihrer Schuhe fast auf die Fresse fällt, ist das überhaupt gar nicht peinlich. Aber dass ich mich gegen eine blöde Anmache wehre, ist natürlich so peinlich, dass du hier gleich vor Scham im Boden versinkst.”
“Du hättest das einfach etwas netter sagen können, weniger provokativ, höflicher.”
“Ich glaube, ich habe was am Ohr! Wenn ich mich recht entsinne, ist das erste, was man sieht, wenn man deinen Namen googelt, ein Bild, auf dem du mit einer dicken Zigarre im grinsenden Mund, ganz in Gold gekleidet, mit der Aufschrift ‘Cocaine’ auf deinem güldenen Hemd an den Silikontitten eines extrem leicht aber auch gülden bekleideten Popsternchens lehnst und dir mit Dollarnoten Luft zufächerst. Und das zweite ist, wie Du aus dem Fond eines offenen Wagens in Begleitung von zwei weiteren Wundern der plastischen Chirurgie und zwei von Steroiden aufgepumpten Muskelheinis Dollarnoten in eine Menge angeblicher Fans wirfst. Und die Person, die auf diesen Bildern zu sehen ist, gibt mir hier gerade Unterricht in Stil und Etikette und erzählt mir, ich sei peinlich? Das ist ein Witz, oder?”
In der nachfolgenden, intensiv geführten Auseinandersetzung ging es um die Begriffe “Marketing” und “Bedürfnisse des Marktes” einerseits und “sich öffentlich zum Deppen machen” andererseits, ohne dass ein Konsens erzielt werden konnte. Ganz unabhängig von der Frage, ob es notwendig sein könne, sich aus Gründen des Broterwerbs für die Restlaufzeit des Internets dort in zweifelhafter Weise zu präsentieren, kamen wir in der eigentlich zugrunde liegenden Problematik, wie in Bezug auf Sam und unsere Anwesenheit hier weiter zu verfahren sei, keinen Schritt weiter. Meine aufgestauten Gefühle hatte sich inzwischen zur blanken Aggression ausgewachsen. Die wurde in diesem Moment von Sebastian noch befeuert, denn er hatte es sich inzwischen anders überlegt und meinte, aus Gründen der Höflichkeit und des Respekts gegenüber dem Brautpaar wäre es unmöglich, vor dem Anschneiden der Hochzeitstorte die Party zu verlassen. Dies war allerdings ganz gegen meine Interessen, denn ich wollte diesem Ort nicht nur möglichst schnell den Rücken kehren, sondern nach Möglichkeit die eben erlebten Stunden umgehend vergessen. Ich hatte jedoch den Eindruck, gerade dieser offen ausgesprochene Wunsch würde bei Sebastian dazu führen, unzählige Gründe dafür zu finden, warum wir noch zu bleiben hätten. Dieser Irrationalismus hatte einerseits etwas von kindlichem Verhalten, anderseits auch ein sadistisches Moment, denn es ging offensichtlich darum, mich zu bestrafen, mich zu etwas zu zwingen, das ich partout nicht wollte. Es ging in irgendeiner Weise um Macht. Irrationalismus hat etwas Ansteckendes. Sollte mich Sebastian dazu nötigen, hier tatsächlich noch länger zu bleiben, würde ich ihm im Gegenzug einen ganz neuen Zugang zum Begriff “peinlich” eröffnen. Wie er ja schon festgestellt hat, waren es ja seine Freunde. Mich kannte hier niemand. Es war diese Drohung, die bei Sebastian zu einer Änderung zumindest im mir gegenüber angeschlagenen Ton führte. Die nächsten Sätze klangen schon etwas versöhnlicher und unsere Gemüter kühlten sich etwas ab.
Es war uns wieder möglich, sinnvoll miteinander zu sprechen, auch wenn die Verletzungen, die die eben geführte Auseinandersetzung beigebracht hatte, noch einige Zeit nachwirken würden. Für mich war in jedem Fall klar, dass nach unserer Heimkehr zunächst für einige Zeit Funkstille angesagt sein würde. Im Interesse unserer Freundschaft musste zunächst eine gewisse Zeit des Schweigens beruhigend über diese Reise hinwegstreichen, erst dann würde ich wieder in der Lage sein, Sebastians Gegenwart zu schätzen. Im Moment konnte ich sie gerade so ertragen. Wir sondierten die Lage.
Sebastian konnte sich inzwischen wieder vorstellen, auf das Beisein beim Anschneiden der Hochzeitstorte zu verzichten. Ich konnte mir inzwischen wieder vorstellen, dass wir uns noch offiziell beim Hochzeitspaar verabschieden. Wir mussten ohnehin jemanden finden, der uns das Tor aufschloss. Warum war das überhaupt verschlossen? Da gab es diesen Film von Lars von Trier, wie hieß der noch? Da ging es um eine eingeschlossene Festgesellschaft. Wurde dann ziemlich schrecklich… Ach was! Das Schlimmste lag hinter uns. Jetzt noch tschüss sagen, Schlüssel holen und dann nichts wie weg. “Das Fest”. Stimmt, so hieß der Film.
Erzähltechnische Spielereien kommen hier schon vor, die Anspielung auf “Das Fest” ist allerdings keine. Keine meiner Figuren wird eine Rede halten und von Missbrauch erzählen, der Text wird auch nicht anfangen zu wackeln. Mir fiel das einach nur so ein und deshalb habe ich es meinen Erzähler denken lassen. Allerdings gebe ich zu, dass diese letzten beiden Sätze sehr wohl eine kleine Spielerei darstellen. Doch nach dieser Zäsur geht es natürlich sofort weiter, denn die beiden Freunde sind noch immer auf der Hochzeitsfeier und es dauert tatsächlich noch einige Zeit, bis sie diese werden verlassen können. Und so lade ich dazu ein, dass wir uns gemeinsam wieder zurück zur Hochzeitsgesellschaft begeben, auf die Finka im Nirgendwo einer kanarischen Insel.
Wir waren uns einig geworden. Sebastian und ich würden uns vom Hochzeitspaar verabschieden. Wir würden darum bitten, ausgelassen zu werden. Wir rechneten mit Verwunderung auf Seiten unserer Gastgeber über die Tatsache des verschlossenen Tors. Es kam uns in der Tat beiden merkrwürdig vor, gab es doch keinen Grund, warum hier ein Tor verschlossen werden musste. Es war weit und breit nichts und niemand, der hier ungebeten eindringen könnte.
Ich wollte unsere Rückkehr in unser Hotel keine Sekunde länger aufschieben und drang auf sofortige Umsetzung unseres Plans. Wir machten uns auf den Weg zurück zur Hochzeitsgesellschaft. Inzwischen schwamm nicht nur ein, sondern zwei der männlichen Gäste angekleidet dafür aber ziemlich besoffen im Pool. Eine leere Wodkaflasche schwamm mit ihnen. Andrew und Susan wurden am Ende anderen Ende des Pools gerade ausgiebig und professionell fotografiert. Der Fotograf zeigte dabei ganzen Körpereinsatz. Warf sich auf den Boden, sprang auf, gab Anweisungen und geriet ganz außer sich vor Faszination über die unterschiedlichen Posen, die Andrew und Susan einnahmen. Susan trug wieder ihre Highheels und hatte sichtlich Schwierigkeiten, länger in einer Pose auszuharren. Ihr Lächeln wirkte nach einem kurzen Moment merkwürdig starr und abwesend. Wir stellten uns an die Seite und warteten auf eine Gelegenheit uns zu verabschieden. Nach einigen Minuten wurden wir wahrgenommen, woraufhin Andrew den Fotografen bat, für einen Moment zu unterbrechen. Sebastian schilderte unser Anliegen, Andrew war in der Tat verwundert über das verschlossene Tor, entschuldigte sich beim Fotografen und machte sich gemeinsam mit Sebastian auf die Suche nach dem Schlüssel.
Susan und ich standen plötzlich allein in der Landschaft. Susan lächelte mich an. Ich lächelte zurück. Im Pool waren immer noch die beiden Gäste, genauso blau wie das sie umgebende Wasser. Sie fingen an, zu singen, eigentlich mehr zu brüllen. “Over the land of the free and the home of the brave.” Susan lächelte noch immer. War ihr das peinlich? Wäre es meine Hochzeit gewesen und meine Gäste hätten besoffen die deutsche Nationalhymne angestimmt, mir wäre es peinlich gewesen. Bei Susan war ich mir nicht so sicher. Es roch wieder nach Pott, diesmal gemischt mit einem weiteren Duft. Die Lilien begannen ihren Geruch zu verströmen, es musste bereits später Nachmittag sein.
Am Rande des Pools standen zwei weitere Gäste. Der eine trug eine dunkle Sonnebrille, sein Gesicht zierte ein Dreitagebart und er machte weit ausholende Gesten, um dem, was er sagte, Nachdruck zu verleihen oder vielleicht auch seine Empörung auszudrücken. Der andere hörte zu. Ich sah ihm wohl einen Moment zu lange auf das T-Shirt. Er fühlte es und blickte zu mir hinüber. Die beiden hoben ihre Getränke und prosteten mir zu, tauschten etwas aus und kamen auf mich zu. Ich überlegte, einfach wegzurennen, denn ich wollte mich nicht mit jemandem unterhalten, der ein T-Shirt trug, auf dem neben einem Adler, Stars and Stripes und einem blauen Hintergrund noch die Worte “Operation Desert Storm – A multinational force for a better world” standen.
Die Vorstellungsrunde wurde eingeleitet. Der Anhänger der Operation Desert Storm stellte sich als John Finn vor. Der mit der Sonnenbrille hieß Ibrahim Alexander. Es wurde vorausgesetzt, dass ich beide Namen, mindestens aber den von Ibrahim Alexander schon gehört hätte, was nicht der Fall war. Ausdruck des Erstaunens. Ich wurde aufgeklärt. Bei Ibrahim Alexander handelte es sich um einen bedeutenden Künstler, der gerade auf dem Weg nach ganz ganz oben war. John Finn war sein Galerist, der von diesem Weg nach ganz ganz oben finanziell ganz ganz toll zu profitieren gedachte. Zwar habe ich ein Faible für zeitgenössische Kunst, aber weder Ibrahim Alexander noch der Name von John Finns Galerie sagten mir etwas. Das konnte freilich nichts damit zu tun haben, dass die beiden ihre Bedeutung überschätzten, sondern ausschließlich damit, dass ich es versäumt hatte, mich auf dem Laufenden zu halten. So schlicht ist die Welt.
Ibrahim sah seine Zeit gekommen, es mit seiner Kunst in Europa zu versuchen. Jeder große Künstler der Gegenwart hätte seinen Durchbruch dort gehabt und er konnte fühlen, wie sein großer Durchbruch unmittelbar bevorstand. Zeit also auf dem europäischen Kunstmarkt Fuß zu fassen.
Da solltest Du vorher aber den Galeristen wechseln, mit dem T-Shirt kommt er nicht weit, dachte ich bei mir.
Im Folgenden bekam ich eine lange Unterweisung über das Wesen der Kunst im Allgmeinen und eine Einführung in das Werk von Ibrahim Alexander im Besonderen. Sebastian ließ sich für die Schlüsselsuche erstaunlich viel Zeit.
Ich wurde ausgiebig informiert. Über Kunstmarkt, Kunstszene und die Welt der Kunst. Kunst, das hatte ich ganz schnell verstanden, war nur dann Kunst, wenn sie sich verkaufen ließ. Alles andere war Mist oder eben einfach keine Kunst. Ich fühlte, wie sich in mir Widerstand regte. Wenn man Märkten etwas überlässt, die jüngste Vergangenheit hatte das in mehrfacher Hinsicht deutlich bewiesen, so kommt in der Regel ziemlicher Unsinn, Chaos und nichts als großer Zusammenbruch dabei raus, der nahezu alle Beteiligten vor allem aber auch die Unbeteiligten ins Unglück stürzt und einen ganz kleinen Rest zu immensem, kaum verdaubaren Reichtum führt. Warum dieser Mechanismus nun ausgerechnet im Hinblick auf Kunst etwas anderes produzieren sollte als Übertreibungen und krisenhafte Blasen, war mir in keiner Weise schlüssig. Meine beiden Gesprächspartner konnten meine Meinung nicht nur nicht teilen, sie hatten keine Ahnung wovon ich sprach. Den Kunstmarkt hätte es schon immer gegeben und würde es immer geben, das ginge gar nicht anders. Wie sollten Künstler und Kunstkäufer denn sonst zusammen kommen?
“Dass es Künstler und Kunstkäufer gibt und man dafür einen Markt braucht, ist doch ein recht junges Phänomen”, meinte ich, wofür ich fragende Blicke erntete.
Es hätte was mit einem Ich zu tun, das sich gewandelt hätte, philosophierte ich vor mich hin. “Ideengeschichtlich ist das ziemlich neu. Das gibt es erst seit der Renaissance.”
Ich wurde heftig ausgelacht, die beiden kriegten sich gar nicht mehr ein vor Lachen, und ich fühlte mich ausgesprochen doof, obwohl ich nicht verstand, was ich Lächerliches von mir gegeben hatte.
“Etwas, das fünfhundert Jahre alt ist, ist doch nicht neu!”
Ich überlegte, ob ich mich auf eine Diskussion über das Wort “neu” einlassen sollte, entschied mich aber dagegen, da sie das Ziel verfehlt hätte. Ziel war ja nicht, festzuhalten, dass eine Idee, die fünfhundert Jahre auf dem Buckel hatte, in der Geschichte der Menschheit, die mehrere zehntausend Jahre auf dem Buckel hatte, schon noch als recht neu gelten konnte. Ziel war vielmehr festzustellen, das etwas, das entstanden ist, auch wieder vergeht. Um es mal ganz bildungsbürgerlich mit Faust beziehungsweise Mephisto zu sagen: Denn alles was entsteht, ist Wert, dass es zu Grunde geht. Auch die Idee des Künstlers und des Kunstmarktes. Wenn man freilich die Vorstellung hat, fünfhundert Jahre wären “immer”, dann hat man für geschichtliches Werden und Vergehen freilich kein Gespür. Mir allerdings ist eine Ewigkeit, die lediglich fünfhundert Jahre dauert, viel zu kurz.
Den beiden Kunstexperten war das alles viel zu theoretisch. Sie drängten auf einen Themenwechsel. Werke der Kunst sollten gezeigt werden, freilich die eigenen. Ibrahim zog seinen Tablet-Rechner aus der Tasche, um mir einen Einblick in sein Werk zu verschaffen. Sebastian war noch immer nicht zurück von seiner Schlüsselsuche. Ich hoffte inständig, er würde gleich kommen.
Das, was mir Ibrahim unter die Nase hielt, war einerseits schön bunt und gefällig, zeugte andererseits von einem tiefsitzenden Narzismus. Als Ausstellungsobjekte in einer Retrospektive der Kunst der 60er Jahre hätten mich die gezeigten Objekte ebenso wenig überrascht, wie es mich überrascht hätte, sie in der Wohnaccessoire-Ecke bei IKEA zu finden. In beiden Fällen wäre ich achtlos vorbei gegangen. Als Botschaften eines heraufzieheden Messias der Kunst konnte ich sie nicht verstehen, als nichts anderes jedoch wollten der Galerist John Finn und sein Künstler sie verstanden wissen.
Sebastian kam aus dem Wohnhaus und bedeutete mir, dass der Schlüssel noch nicht gefunden sei, er daher noch weitersuchen werde. Hinter Sebastian und von ihm unbemerkt übergab sich gerade ein weiblicher Gast ins Gebüsch. Ihre Freundin war behilflich und hielt ihr das lange Haar, damit es nicht vollgekotzt würde. Von irgendwoher schon wieder der Geruch von Marihuana. John und Ibrahim warteten auf eine Reaktion. Vor vielen Jahren trug ich noch Springerstiefel und hatte einen bunten Irokesen. Da hätte ich die beiden wahrscheinlich ebenso ausgelacht, wie sie vor wenigen Minuten mich ausgelacht hatten, und sie gefragt, was diese angepasste Scheiße soll. Heute war ich in meiner Entwicklung weiter. Ich dachte das mit der angepassten Scheiße nur, ohne es auszusprechen. Ich suchte nach ein paar unverfänglichen Floskeln und entschied mich für einen Satz, in dem die Ausrücke “geballte Farbkraft” und “imposant” vorkamen. Mit diesem weitgehend sinnfreien Blabla hoffte ich, die beiden zufrieden zu stellen. Auf das Äußern wahrheitsgemäßer, aber nicht zwingend konsensfähiger Sätze hatte ich nach der Begegnung mit Sam und der sich daran anshließenden Diskussion mit Sebastian keine Lust mehr. Schließlich konnte man nicht wissen, welche latent vorhandenen Aggressionen man mit Wahrheit bei den amerikanischen Freunden auslöste.
Die Anerkennung der Farbenpracht reichte nicht. Ich hatte für den Geschmack von Ibrahim und John viel zu wenig Euphorie gezeigt. Ob ich denn das Radikale in den gesehenen Objekten nicht sähe, wollte man von mir wissen. Ich sah es nicht, im Gegenteil überkam mich zunehmend Langeweile. Die beiden insistierten. Unterhalb von “bahnbrechend” wollten sie die Werke keinesfalls angesiedelt wissen. Damit konnte ich nicht dienen. Ich war mir auch gar nicht sicher, ob man mit irgendwelchen Dingern, die man an irgendwelche Wände hängt, noch irgendwelche Bahnen brechen konnte. Wir hatten, das war schnell offenbar, unterschiedliche Perspektiven auf Kunst. Den beiden ging es um Marketing und Verkauf, mir um so was wie Kunst als soziale Praxis. Ich sagte das nicht, denn ich wäre sicherlich wieder ausgelacht worden. Doch als Sebastian mir mit dem Schlüssel zuwinkte, zögerte ich keine Sekunde, ergriff die Gelegenheit und verabschiedete mich. John und Ibrahim bedauerten, das Gespräch nicht fortsetzen zu können. Ich war mir sicher, das sei geheuchelt und sie würden unmittelbar, nachdem ich aus Hörweite war, mit dem Lästern anfangen. Ich erwiderte daher nichts, lächelte nur und ging zu Sebastian.
Wenig später verließen wir die Party. Sebastian holte unseren Wagen, ich sollte das Tor aufschließen.
Als ich wenig später im Auto saß und sich im rückwärtigen Fenster die Finka langsam entfernte, wurde mir wohler. Ich hatte es überstanden, wir hatten es überstanden. Sebastian atmete deutlich hörbar aus. “Sorry”, sagte er. Es sei schlimm gewesen, er wisse das und “Sorry!” Das stimmte mich sanft. Die Themen, über die ich mit Sebastian sprechen wollte, sein Verhalten in Bezug auf Sam, sein großspuriges Auftreten als hochstapelnder Deutschlandkenner, über das ich mich so geärgert hatte, sein merkwürdiges Verhalten gegenüber der blöden Kuh, deren Namen ich immer noch nicht in Erfahrung gebracht hatte, über all das würde man auch morgen noch sprechen können, in aller Ruhe. Mit jedem Meter Distanz verließ uns die Anspannung ein bisschen mehr,, wir bemerkten das beide. Wir fuhren eine bewaldete Straße hinab Richtung Küste, es dämmerte. Plötzlich durchzuckte mich ein Gedanke, mein Puls erhöhte sich, mir wurde warm. Ich griff in meine Hosentasche. Sebastian hatte meine Unruhe bemerkt. Er wollte wissen, was los sei. “Scheiße! Ich habe noch den Schlüssel.”
Wir überdachten die unterchiedlichen Optionen. Es gab nur zwei. Zurückfahren und den Schlüssel abgeben oder den Weg einfach fortsetzen. Sebastian kam auf eine dritte Möglichkeit: anrufen. Letzlich, das wahr mir klar, war dieser dritte Weg lediglich eine Schleife, die uns zu Option eins oder zwei zurückführen würde. Sebastian sah das anders und wählte Andrews Nummer, der nach geraumer Zeit das Gespräch annahm. Andrew fand es unglaublch cool, dass Sebastian ihn anrief, fand es schön seine Stimme zu hören und es machte ihn echt traurig, dass wir jetzt wegen des Schlüssels ein Problem hatten. “Der ist total drauf”, flüsterte Sebastian mir zu.
“Brauchst Du den Schlüssel?”, wollte er von Andrew wissen.
Andrew wusse nicht, um was für einen Schlüssel es ging, konnt sich aber erinnern, dass es im Laufe des Tages schon einmal um einen Schlüssel gegangen sei. Sebastian fragte nach, ob er den Schlüssel zur Finka vorbei bringen sollte.
“Ja, cool, komm vorbei. Wir machen uns eine gute Zeit”, antwortete Andrew und fügte hinzu: “Heute ist mein Hochzeistag.”
Sebastian legte auf. “Der ist total breit. Was machen wir jetzt?”
“Zurückfahren, Schlüssel abgeben und dann endgültig weg. Fahr los.”
Ich ärgerte mich über mich selbst. Wie eben mit zunehmender Distanz die Spannung abgenommen hatte, nahm sie jetzt mit abnehmender Distanz wieder zu.
Auf dem Weg zurück zur Finka verfuhren wir uns. Zwar hatten wir für das gesamte Vorhaben der Schlüsselrückgabe zwanzig Minuten geplant, doch waren wir nun schon eine dreiviertel Stunde unterwegs, ohne dass wir das Gefühl hatten, unserem Ziel wirklich näher gekommen zu sein. Überall nur Bäume, alles sah sich ähnlich und dunkel war es inzwischen auch. Eben wollten wir aufgeben, als Sebastian auf einen kleinen Einmündung aufmerksam machte, an der wir inzwischen schon mehrfach vorbei gefahren waren. “Es kann eigentlich nur noch hier sein. Letzte Chance.”
Das Gelände stieg zunächst sanft, dann immer steiler an. Trotz der Dunkelheit meinte ich, einzelne Details wiederzuerkennen. Als dann in der Ferne Licht durch die Bäume schimmerte, waren wir uns sicher, den Weg gefunden zu haben. Wenige Minuten später standen wir vor der Einfahrt der Finka.
Die Situation hatte sich geändert. Hinter dem Haus, dort wo der Pool lag, flackerten nun bunte Lichter im Rhythmus zur Musik. Man hörte Gesang, Lachen und Grölen, ein wildes Durcheinander. Beim Aussteigen aus dem Auto meinte ich, den Geruch von Erbrochenem wahrzunehmen.
Ich gab Sebastian den Schlüssel. “Fünf Minuten höchstens”, sagte ich mahnend.
“Kommst du nicht mit?”
Obwohl wir nicht darüber gesprochen hatten, schien es mir abgemacht, am Wagen zu warten. Sebastian meinte nun, es wäre besser, ich würde ihn begleiten. Er würde sich sicherer fühlen. Mir war nicht wohl dabei, doch ließ ich mich überreden. Gemeinsam traten wir durch das Tor auf das Gelände.
Der Geruch nach Erbrochenem wurde stärker. Wir hatten das Tor passiert, da sahen wir in geringer Entfernung einen gekrümmten Schatten am Boden. Wir gingen etwas näher und es wurde eindeutig: Hier lag jemand. Sebastian und ich sahen uns an. Wir gingen noch näher, der Geruch verstärkte sich. Wir fanden einen Hochzeitsgast in der eigenen Kotze liegend. Ein erbärmlicher Anblick. Ich solle mich kümmern, meinte Sebastian, denn wenn er das weiter riechen müsse, würde er gleich selbst kräftig kübeln.
Ich beugte mich über den Mann, rüttelte an seiner Schulter. “Hey! Aufwachen!”
“Lass mich!” war seine Antwort und in den Geruch nach frischer Kotze mischte sich eine kräftige Alkoholfahne.
So gut es ging drehte ich die Alkoholleiche auf die Seite. Schließlich sollte er nicht beim nächsten Würgen an seinem Erbrochenem ersticken. Sebastian wollte wissen, was los sei.
“Der ist nur total blau.”
“Willst du den hier liegen lassen?” wollte Sebastian wissen.
“Kannst ja den Notarzt rufen, falls du ein Netz hast. Der ist bestimmt in ein bis zwei Stunden hier, vielleicht auch in drei. Bis dahin geht es dem hier zwar nicht gut, aber besser.”
“Wir könnten die anderen holen.”
“Die werden vermutlich auf dem Weg in ähnliche Zustände und daher wenig hilfreich sein. Dem passiert schon nichts. Lass uns jetzt den Schlüssel abgeben.”
Wir gingen um das Haus zum Pool, in dem inzwischen eine ganze Gruppe ausgelassen planschte. Auf der anderen Seite des Pools wurde getanzt. Die Hochzeitstorte stand im Hintergrund auf einem Buffet und war halb aufgegessen. Benutzte Teller standen daneben, ein Teil der Hochzeitstorte lag als Brei vor dem Buffet auf dem Boden. Etwas war wohl schief gegangen. In der Mitte der Tanzenden waren Andrew und Susan. Wir bahnten uns einen Weg in Richtung der beiden. Andrew sah uns, flüsterte Susan etwas zu und breitete die Arme aus. Wenige Sekunden später fand ich mich in den Armen Andrews wieder, der mir seine Lippen auf meine drückte und mir dabei die Zunge tief in den Rachen schob. Der Geschmack von Erbrochenem breitete sich in meinem Mund aus.
Andrew versuchte, uns beide zur Musik zu bewegen. Ich bin kein großer Tänzer und war von der Situation zu überrascht, um vollendete Elleganz zu zeigen. Entsprechend ungelenkt fielen unsere Bewegungen aus. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass es Sebastian nicht besser ergangen war. Er lag steif in den Armen von Susan, wurde ebenso intensiv geküsst, wie ich, und sah genauso überrascht aus, wie ich vermutlich aussah. Die umstehende Menge applaudierte. Mir war nicht klar, wem und warum. Bald löste Andrew seine Umarmung, hielt mich an den Händen, wobei er seinen Kopf auf meine Schulter legte, um mit seiner Zunge an meinem Ohr zu spielen. Ich zuckte zurück. Er meinte, er hätte mich wahnsinnig gern und fragte, ob ich nicht Lust hätte, mit ihm für einen Moment nach oben auf sein Zimmer zu verschwinden.
Ich wollte ebene etwas in der Richtung antworten, wie ungewöhnlich es für mich sei, auf einer Hochzeit vom Bräutigam gleichgeschlechtliche Avancen gemacht zu bekommen, ich daher noch etwas Bedenkzeit bräuchte, da sah ich, wie sich Susan mit Sebastian im Arm immer näher und näher an den Pool bewegte, sie ihn schließlich mehr drängte als mit ihm tanzte, bis er – platsch – ins Becken fiel. Die umstehenden Gäste lachten und applaudierten erneut, während sich Susan zu ihnen drehte und freudig ihre Arme in die Luft warf.
Andrew nutzte die Irritation und zog mich in Richtung Hochzeitstortenbuffet aus der Menge.
Am Buffet angekommen griff sich Andrew die Zuckerdose, packte mich am Arm und zog mich weiter in Richtung Haus. Im Dunkel des Eingangs drehte es sich zu mir, drückte sich eng an mich, um mich erneut zu küssen. Ich schob ihn von mir, wobei Andrew die Zuckerdose aus der Hand fiel. Sie ging zu Bruch und ihr Inhalt verteilte sich auf dem Boden.
“Bist du bescheuert? Das schöne Koks!” Andrews Gefühle für mich waren abrupt abgekühlt.
Manchmal bin ich unglaublich naiv. Wenn ich eine Zuckerdose sehe, denke ich, da ist bestimmt Zucker drin. Auf die Idee, es könne sich um einen für alle zugänglichen Kokainvorrat handeln, der die Feier am Laufen und die Gäste bei Stimmung hält, komme ich erstmal nicht.
Andrew wurde hektisch. “Hilf mir mal”, meinte er. Er versuchte, das Kokain in die größte Scherbe der Zuckerdose zu füllen. Ich reichte ihm einen Kassenbon, den ich in meiner Hosentasche gefunden hatte. Er begann, das Koks mit dem Papier gierig zu schaufeln. Zwischendurch feuchtete er seinen Finger an, indem er ihn kurz in den Mund steckte, steckte ihn dann ins Kokain und verrieb es sich auf dem Zahnfleisch.
“Du bist ja ein richtiger Hardcore-Junkie.”
“Ich bin kein Junkie, ich habe Geld und kann mir das leisten. Ich will nur Party machen. Hau jetzt ab, du nervst.”
Hier gab es gleich mehrere Anknüpfungspunkte für eine weiterführende Diskussion. Am interessantesten schien mir die These, dass nur diejenigen Junkies sein können, die die finanziellen Mittel zum Bedienen ihrer Sucht nicht aufbringen konnten. Allerdings sah ich davon ab, das Thema mit Andrew zu vertiefen. Er war gerade in einem nahezu manischen Zustand, hatte daher sicherlich auch keine Muße für eine geistreiche Debatte. Mit Schweißperlen auf der Stirn schaufelte er mit einem dazu immer weniger geeigneten Kassenbon Kokain in eine Zuckerdosenscherbe, verschüttete immer wieder einen Gutteil, was ihn wiederum hektischer werden ließ. Dabei fluchte er flüsternd vor sich hin. Von all der Liebe, der Leidenschaft und dem Begehren, die eben noch Andrews Universum nicht nur gefüllt sondern gebildet hatten, war keine Spur mehr vorhanden.
Da ich ohnehin fortgeschickt worden war, begab ich mich zurück zum Pool. Susan tanzte umringt von klatschenden Gästen. Sebastian saß klatschnass am Beckenrand und hielt sich die Schulter.
Beim Sturz in den Pool hatte Sebastian sich die Schulter verletzt. Zu sehen war nichts, doch Sebastian fühlte einen Schmerz, der an Intensität beständig zunahm, so als wäre er eben vom Fahrrad gefallen. Susan kümmerte das nicht und auch alle anderen Gäste waren teilnahmslos. Sebastian hatte für einen Lacher gesorgt, jetzt waren alle wieder bei sich, bei ihren Getränken, ihren Drogen und den oberflächlichen Gesprächen. Einige tanzten, manche standen in kleinen Gruppen und unterhielten sich, andere saßen und blickten verträumt in den Himmel. Drauf waren sie alle. Am Buffet wurde bereits die Zuckerdose vermisst. Doch es gab anscheinend noch andere Tigelchen und Töpfchen, die über den Verlust hinwegzutrösten schienen.
Sam der Priester stand am gegenüberliegenden Beckenrand neben einer Poolliege auf der eine dunkelhaarige Schönheit lag, die sich von Sam das Haar streicheln ließ, während sie ihm zuhörte. Ich nahm an, er würde sie missionieren und würde seine erfolgreiche Mission gern mit der Missionarsstellung besiegeln. Zumindest guckte er ihr fast schon unverschämt deutlich auf die enormen Brüste. Sie schien das nicht zu stören, sie lächelte sphärisch, kicherte zwischenzeitlich, um dann wieder zu lächeln. “Total auf Droge”, dachte ich.
Sebastian stöhnte vor Schmerz. “Was für eine Scheiße!”
In dem Moment, in dem ich mich zu Sebastian nieder beugte, in sein schmerzverzerrtes Gesicht sah, überfiel mich ein dunkles, namenloses Gefühl. Es war nicht Traurigkeit, es war tiefer. Ich sah auf, sah, wie sich am anderen Ende des Gartens John der Galerist und Ibrahim der Künstler, die für einen Moment von farbigen Lichtern beleuchtet wurden, über den noch immer im Gras liegenden Besoffenen lachten.
War es Einsamkeit, die mich beschlich?
Alles um uns herum war in sich vertieft, mit sich beschäftigt, eingetaucht in lachende, tanzende Welten. Ein dionysisches Reich ohne Mitleid.
War es Verlassenheit?
Sebastian atmete laut hörbar. Seine Schulter sah merkwürdig verschoben aus. Wie das passiert sei, wollte ich wissen. Sebastian wusste es nicht genau. Er vermutete mit der Schulter auf eine der Edelstahlstufen der Beckenleiter gefallen zu sein. Er wusste allerdings umso genauer, dass seine Schmerzen mit jedem Moment an Intensität zunahmen.
Schnell deklinierten wir erneut die Möglichkeiten durch. Krankenwagen dauerte zu lange, scheiterte ohnehin daran, dass wir kein Netz hatten. Es blieb nur, selbst zum Krankenhaus zu fahren.
“Was ist mit dem Schlüssel?”
“Scheiß auf den Schlüssel! Der liegt irgendwo im Pool.” Meine Frage kam mir tatsächlich merkwürdig irrelevant vor, auch wenn sich in der letzten Stunde alles um diesen Schlüssel gedreht hatte.
“Kannst du aufstehen?”
Es ging. Sein rechter Arm hing leblos an ihm herunter, er selbst war klatschnass. Ich wollte noch eine Decke holen, aber Sebastian drängte darauf, so schnell wie möglich den Ort zu verlassen. Es waren die Schmerzen, die ihn ungeduldig machten. Wir gingen langsam in Richtung Ausgang, Richtung Tor und rettendem Auto. Sebastian ging langsam, jede Bewegung seines Armes vermeidend.
Es waren John und Ibrahim, die unsere Abfahrt noch einen Moment hinauszögerten. Sie machten deutlich, dass sie sich von mir in gar keinem Fall verabschieden wollten, weil sie sich von mir schlecht behandelt fühlten. “European dick” war der in diesem Zusammenhang gebrauchte Ausdruck. Aber von Sebastian wollten sie sich verabschieden, weil er ein guter Amerikaner sei und Amerikaner füreinander einstünden.
Schneller als einem Betrunkenen das normalerweise möglich ist, umarmte John Finn Sebastian und klopfte ihm dabei kräftig auf den Rücken. Sebastians schmerzhaftes Stöhnen wurde von einem Knirschen in seiner Schulter begleitet.
“Voll die Pussy!” Ibrahim konnte sich kaum halten vor Lachen, in das John Finn kurzerhand einstimmte.
Von Erwiderungen und Diskussionen sahen wir ab. Ich brachte Sebastian zum Auto, überlegte für einen Moment, ob wir für den im Gras liegenden Betrunkenen noch Platz hätten, als dieser sich im Gras aufrichtete und nach einem Bier fragte. Hier wurde Hilfe gerade überflüssig, während sie andernorts dringend gebraucht wurde. Sebastian war es nicht möglich, die Autotür zu öffnen, nur unter Stöhnen konnte er Platz nehmen und bei jeder Unebenheit in der Fahrbahn verzerrte sich sein Gesicht.
Schlüsselbeinbruch war die Diagnose, die später im Krankenhaus gestellt wurde. Und noch viel später waren wir wieder in der Lage, über das Erlebte zu lachen. Bis dahin war es jedoch noch ein weiter Weg, denn viel war zwischen uns zu bereden, zu erläutern und zu klären.