Rolf Schwarz – Erzählung

Als man ihn fand, hing er schon drei Tage. Schlinge um den Hals, die Augen übergetreten, die Zunge aus dem Mund. So hing er drei Tage an einem bizarr kurzen Stück Seil. Für ein längeres war seine Wohnung zu niedrig. Der Haken an der Decke trug ihn mit Mühe, die Lampe, die sonst dort hing, lag auf dem Boden, daneben ein umgestoßener Hocker und eine Bohrmaschine. Rolf Schwarz hatte in der letzten Stunde seines Lebens versucht, ein Loch in die Decke seines Zimmers zu bohren, um einen exklusiven Haken für seinen Tod zu haben, einen, der nur seinem Tod dienen sollte Er war gescheitert, wieder einmal, so fühlte es sich an.

Nicht mal das Sterben gelang ihm, immer war alles nur Scheitern. Am Kleinen, am Alltäglichen, am Leben scheitern. Er hatte den Bohrer aus der Hand gelegt, hatte zur Lampe gegriffen, sie beinahe wütend über sein Versagen abgerissen und das Seil mit am Haken befestigt. Mehrfach zog er daran und prüfte, ob der Haken sein Gewicht ertrüge.  Sein Selbstmord schien ihm notwendig, ein Akt der Befreiung, eine Handlung ohne Wahn, Ein einziger, sinnvoller, reflektierter Akt der Freiheit. Die letzte Freiheit, die Rolf Schwarz meinte zu haben.

Gerne hätte er teilgenommen am Leben. An einem einfachen Leben, Studium, Freundin, Heirat, vielleicht ein Haus, eine manchmal mehr manchmal weniger ausfüllende Arbeit, Kinder, ein Leben ohne Besonderheiten, das hätte er gerne gehabt. Doch sein Leben war besonders.

Es war kurz nach seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag , da brach das Besondere in sein Leben ein. Es hatte sich kaum merklich angedeutet, mit einer leichten Verschiebung hatte es begonnen, eine leichte Verrückung der Sinne hatte sich zugetragen und zunächst hatte er es genossen. Alles war so reicher, so bedeutungsvoller, auch wenn er nicht hätte sagen könne, worin diese Bedeutung bestand, für Rolf war sie mit Händen greifbar in diesen ersten Tagen. Er musste oft lachen, spontan lachen. Er lief einige Tage durch die Straßen seiner Stadt und lachte. Er mied die Enge seiner Wohnung, die ihm unheimlich wurde, kehrte nur zum Schlafen zurück, immer seltener und kürzer, denn wer wollte in dieser beseelten Welt schlafen, in der alles Bedeutung war?

Dass sich die Leute mehr und mehr von ihm abwandten, bedeutete ihm nichts. Es waren dumme Leute, die nichts wussten, die nichts von Bedeutung wussten und nicht die Bedeutung wussten. Er wusste sie. Sie war überall da. Überhaupt war immer und überall alles da. Es war da! Völlig da! Es war erstaundlich, dass er das nicht immer schon gesehen hatte. Ja überhaupt, das Sehen. Es war ja nicht nur, dass er die Dinge sah. Die Dinge blickten zurück, starrten ihn an und manchmal begannen sie über ihn zu flüstern.

Ihm war, als brächen die Rahmen weg, die ihn sonst vor dem Andrang, dem Lärm der Dinge schützten. Er hatte nichts von den Rahmen gewusst, die um alle Dinge waren, erst jetzt, da sie fehlten, wusste er, dass sie sonst schützend da waren. Nun kam alles direkt auf ihn zu. Stömte auf ihn ein, das Sein strömte in ihn hinein, durchstieß ihn unablässig und er konnte es nicht stoppen. Es hörte nicht mehr auf. Wo waren die Gestelle, die Worte, Namen und Begriffe, die sonst schützen, weil sie alles in Distanz brachten? Sie waren ohne Bedeutung und wirkungslos geworden. Rolf lachte noch immer, aber es war nicht mehr das Lachen des Wissenden über die Unwissenden, es war die Panik, die ihn gepackt hatte, das blanke Entsetzen. reine Angst.

Rolf schlief nicht mehr. Er streifte unablässig durch die Stadt, suchte Schutz. Manchmal, wenn er die Hand in einer ganz bestimmten Weise an die Stirn legte, wurde alles etwas weniger, langsamer. Also legte er immer öfter die Hand an die Stirn. Sie schirmte ihn ab. aber nicht genug. Dann unernahm er einen Versuch mit seinem Gürtel, band ihn sich um den Kopt. Das war gut. Er schütze ihn besser vor den Strahlungen, die so viele Dinge aussandten, vor ihren Stimmen und Blicken. Er fand ein Paar alte Kopfhörer, setzte sie auf und es half. Es wurde weniger. auch wenn es nicht ganz verschwand und alles noch immer seine beängstigend hohe Geschwindigkeit behielt.

Irgndwann hatte er irgendwo seine Schuhe verloren. Sie waren ihm unwichtig geworden. Die Socken waren ihm geblieben, löchrig, schwarz vor Schmutz, alt. Sein Gesicht war ebenso schmutzig, seine Hände dreckig, seine Kleidung fleckig und er stank. Es war ihm egal, Nein, es war ihm nicht egal, er gewahrte es nicht. Es kam ihm nicht zu Bewusstsein. Die Angst war in ihm, eine beständige Unruhe trieb ihn. Und dann brach immer wieder das Lachen aus ihm heraus.

Rolf wurde von der Polizei aufgegriffen, weil er eine Frau attackierte. Sie hatte den Blick, wie er es später nannte, und kontrollierte seine Gedanken. Er wehrte sich und griff die Polizisten an. Rolf schrie in seiner Panik und lachte. Er schlug um sich. Er wurde zu Boden gedrückt, ihm wurden Handschellen angelegt. Er schrie. Lachte.

Man brachte ihn in eine Klinik, in der er mehrere Wochen bleiben musste. Die Türen waren verschlossen. Man gab ihm Medikamente, die alles verlangsamten und einen Tunnel in seinen Augen und seinem Kopf bildeten, so dass alles wieder in sichere Entfernung kam. Er schlief viel. Und als es ihm besser ging wurde ihm gesagt, was das Besondere war, dass in sein Leben eingebrochen war. Es war für Rolf eine Überraschung, dass es  einen Namen hatte. Der Name war Schizophrenie.

Das Besondere in ihm hatte einen Namen erhalten. Einen medizinischen Namen. Wie alle Namen funktionierte auch dieser wie ein Rahmen, der etwas begrenzt und einhegt, damit es nicht übertritt und ängstigt. Das Paradoxe an diesem Namen war, dass genau dieser Name einen Zustand versuchte zu fassen, in dem die Gültigkeit der Namen und ihrer Begrenzungen aufgehoben ist. Zu Beginn seiner Erfahrung hatte Rolf das in zutiefst beglückender, dann fortschreitend in tief angstvoller Weise erlebt.

Was Rolf zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, war, welch einschneidende Veränderung die Diagnose “Schizophrenie” für sein Leben bedeuten würde. Er wusste nicht, in welch starkem Maße sie Grenzen festlegte, die zu überschreiten ihm unmöglich werden würde. Sie legte Räume fest, in denen Rolf sich künftig aufhalten würde, geographische Räume, Räume in seiner STadt, soziale Räume. Sie legte seinen Umgang fest und sie legte fest, welche finanziellen Mittel ihm künftig zur Verfügung stehen würden. Sie limitierte ihn in seinen Möglichkeiten, grenzte ihn ein. Die Diagnose war gleichsam die Mauer seines künftigen Gefängnisses, in dem er sich lediglich einrichten, aus dem er aber nie entlassen werden konnte. All diese Begrenzungen hatten wenig mit dem Krankheitsbild zu tun, es waren strukturelle Begrenzungen, die mit der Diagnose einhergingen.

Es war nun an ihm, die Enge seiner künftigen Behausung zu erfahren.

Sechs Wochen nach seiner zwangsweisen Unterbringung in der Psychiatrie wurde Rolf von der geschlossenen auf eine offene Station verlegt. Falls er es nun wolle, könne er die Klinik jederzeit verlassen, sagte man ihm. Doch die hohe Dosis an Psychopharmka, die ihm verabreicht wurde, verhinderte jede eigenständige Entscheidung. Rolf war lediglich in der Lage, Vorschlägen zuzustimmen. Schlug ein Arzt vor, noch zu bleiben, stimmte Rolf zu. Schlug seine Psychologin vor, regelmäßig an einem der ergotherapeutischen Angebote teilzunehmen, stimmte Rolf zu, Schlug die Ergotherapeutin vor, sich an Seidenmalerei zu probieren, damit Rolf auch ein schönes Geschenk zum Muttertage habe, stimmte er zu. Immer musste sich Rolf durch diesen schier endlosen Tunnel in seinem Gehirn an die Oberfläche kämpfen, um auf eine Frage reagieren zu können. Es war wie auftauchen, sich hochschimmen in einer zähen Flüssigkeit. Es kostete unglaubliche Mühe, die ihm für Abwägen und Argumentieren dann fehlte. Oben angekommen, zog es ihn sofort wieder hinab in sein Inneres. Dort wollte er bleiben. Von außen kamen ausschießlich Störungen, über die zu ärgern ihm jedoch die Energie fehlte, So stimmte er einfach immer allem zu. Er unternahm keine Schritte, dem Zugestimmten die Umsetzung folgen zu lassen, Dazu fehlte ihm jeder Antrieb. Doch er verweigerte sich auch nicht, wenn er unmittelbar aufgefordert wurde, etwas konkret Benanntes zu tun, denn auch zur Verweigerung fehlte ihm die Kraft.

Während seines Aufenthalts in der Psychiatrie war Rolf immer davon ausgegangen, mit seiner Entlassung würde er unmittelbar in sein gewohntes Leben zrückkehren. Er würde sein Ingenieurstudium wieder aufnehmen, es aufgrund der Dauer seines Klinikaufenthalts, er war nun schon drei Monate hier, ein Semester später als geplant beenden und anschließend als Bauingenieur arbeiten. Dieser Ablauf schien ihm so klar und so selbstverständlich. Allein schon der Gedanke, darüber nachzudenken wäre ihm unsinnig erschienen.

Er fühlte wie er Fortchritte machte. Sein Zustand hatte sich deutlich gebessert. Dies war nicht nur sein Empfinden, die Ärtzte und seine Psychologin kamen ebenfalls überein, ihn auf einem guten Weg zu sehen, wehalb die Medikamente nach und nach reduziert wurden. Der Tunnel, der aus ihm hinaus in die Welt und aus der Welt in ihn hinein führte, wurde hierdurch kürzer. Rolf konnte nahezu unmittlbar reagieren und fühlte sich gut, sicher. ein wenig traurig und erschöpft, aber im Großen und Ganzen gut. Mit der Reduktion der Medikamente verschwand das Roboterhafte aus seinen Bewegungen, er konnte seinen Speichelfluss wieder kontrollieren und seine Haut hörte auf zu schuppen. Wenn er sich beim Anziehen vertat, sein Hemd falsch knöpfte, bemerkte er es und konnte es korrigieren. Vor wenigen Wochen noch wären ihm diese einfachen Abfolgen nicht nur missglückt, sondern das Missglücken wäre ihm nicht aufgefallen. Er machte unübersehbar Fortschritte.

So war er nicht verwundert, als eines Tages eine sehr sympathisch wirkende junge Frau mit hellblondem Haar und einem breiten Lächeln auf ihn zukam, die sich als seine zuständige Sozialarbeiterin vorstellte. Frau Berger sei ihr Name und sie wolle mit ihm über die Zeit nach seiner Entlassung aus der Klinik reden. Damit hatte er gerechnet. Doch was dann kam, war wie ein Schlag in die Magengrube: Den Besuch einer Tagesstätte hielt sie zur Stabilisierung für sinnvoll. Für einen Zeitraum von einem oder eventuell auch zwei Jahren. Darüber hinaus wollte sie mit ihm über eine Antrag auf Erwerbsminderungsrente reden. Er suchte nach Worten, fand aber keine.

Das Wort “Rente” lastete schwer. Rolf hatte das Gefühl, man wolle ihn aussortieren. Noch bevor alles begann, sollte er bereits aussortiert werden. Noch vor einem Einstieg ins Berufsleben, noch vor seinem Einstieg in irgendeine Form der Karriere, sollte es schon zu Ende sein?

Ja! Er gab doch alles zu! Es war dieses Verrückte in ihm. Er war aus der Spur geraten, es war ihm entglitten, er war aus sich selbst herausgefallen und ja! wenn es irgendjemandem half, konnte man das Krankheit, konnte man es Schizophrenie nennen. Jetzt war doch aber alles wieder gut! Er war einsichtig, er gehorchte, er nahm die Tabletten und machte alles mit, was von ihm verlangt wurde. All dieses Mitmachen hatte doch nur ein Ziel: Wieder Teil zu werden von all dem, was man Gemeinschaft nennt, er wollte nicht herausfallen. Warum denn jetzt Rente? War das, was sich in ihm ereignet hatte, so schlimm, eine solche Bedrohung, dass man ihn isolieren musste, ausgrenzen, sich vor ihm schützen musste?

Lea Berger, seine Sozialarbeiterin, sah das freilich ganz anders. In ihrer gewohnt gut gelaunten Art setzte sie Rolf auseinander, welche Vorteile eine Berentung habe. Sie habe eigentlich nur Vorteile und mit Ausgrenzung und Isolation hätte das alles rein gar nichts zu tun. Er könne später, wenn er sich ausreichend stabilisiert habe, durchaus noch einen Beruf lernen und dann in seinem Beruf arbeiten. In einer Werkstatt für Behinderte hätte er immer Anrecht auf Ausbildung und einen Arbetsplatz. All die Unsicherheit und die Unwägbarkeiten des ersten Arbeitsmarktes würden für ihn wegfallen. Das wäre doch toll!  Das mit dem Studium ginge dann tatsächlich nicht mehr, aber er könne sich doch auch mal so in ein Seminar setzen, wenn ihn etwas interessiere. Da wäre der Leistungsdruck viel geringer und er könnte dann bestimmt in ganz anderer Weise proftieren. Außerdem bräuchte man kein Studium, um glücklich zu werden. Glück habe andere Ursachen. Schönes Wetter zum Beispiel, so wie heute. Da wäre man doch gleich super drauf, “Oder?”

“Ja, das stimmt schon”, meinte Rolf, und im Moment seiner Zustimmung war er sich darüber im Klaren, dass es unglaublich viel Mühe kosten würde, Frau Berger davon zu überzeugen, dass er lediglich der Verbidung von gutem Wetter und guter Laune, nicht aber einem Rentenantrag zugestimmt habe.

Warum Rolf alles Aufgetragene unternommen hatte, um den ihm eigentlich verhassten Rentenantrag auf den Weg zu bringen,  wusste er nachträglich nicht mehr zu sagen. Für ihn handelte es sich um Ausgrenzung. Als ihm nach geraumer Zeit,  er war schon längst aus der Klinik entlassen und zu mehreren Institutionen und den ihnen zugeordneten Sozialarbeiterinnen weitergereicht worden, der Rentenbescheid zugestellt wurde, weinte er. Er hatte das Gefühl, sein Schicksal sei damit besiegelt.

Rolf war nun völlig frei. Frei von allen Verpflichtungen und von allen gesellschaftlichen Zwängen, aber nicht frei zu etwas, denn seine Mittel waren sehr beschränkt. Grundsicherung heißt diese Beschränkung. Sie legt fest, wie viel Freiheit zu etwas einem zusteht, der nicht mehr dazu gehört, da sie festlegt, wie viel Geld für welche Produktgruppen und Dienstleistungen monatlich ausgegeben werden darf: Gaststättendienstleistungen 7,57 € im Monat, Bildung 1,46 € im Monat.

Rolf besuchte auf Vorschlag seiner aktuell zuständigen Sozialarbeiterin für einige Zeit eine Tagesstätte für chronisch psychisch Kranke. Sie fand das sei eine tolle Idee, Rolf nicht. Er ging schließlich trotzdem hin. Nicht, weil er dann doch Neigung dazu verspürte, sondern weil es sich rechnete. In seinem Regelsatz waren monatlich 135,61 € für Nahrungsmittel und Getränke vorgesehen, Allerdings nur für Getränke ohne Alkohol. In der Tagessätte fiel pro Anwesenheitstag eine Eigentbeteiligung von 2,– € an. Dafür wurde den Besuchern ein Frühstück und ein Mittagessen geboten.

Wenn er, so war seine Überlegung, an fünf Tagen in der Woche die Tagesstätte aufsuchte und dort beide Mahlzeiten zu sich nahm, abends aber aufs Essen verzichtete, käme er von Montag bis Freitag mit 10,– € hin, er müsste sich mittags einfach nur richtig satt essen. Wären rund 40,– € im Monat. Dann blieben von den 135,61 noch 95,61 übrig, von denen die Wochenenden zu bestreiten wären. Wenn er sich also regelmäßig in der Tagesstätte verpflegen lassen würde, das war seine Planung, dann hätte er etwas Geld übrig, welches er auch mal für ein alkhoholhaltiges Getränk in Verbindung mit einer Gaststättendienstleistung ausgeben könnte. Wenn er wirklich eisern wäre, könnte er sogar einen Spanisch-Kurs an der Volkshochschule belegen.

Zudem gehörte zur Tagesstätte ein Atelier, in dem neben Materialien und Werkzeug auch eine Kunsttherapeutin mit ihrem Wissen und ihren Fertigkeiten zur Verfügung stand, um den Besuchern mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, ihnen zu ermöglichen, sich psychisch zu stabilisieren, sich auszuprobieren, Techniken zu erlernen und das Erlernte zu verfeinern. Rolf hatte einen Hang zum Malen und Zeichnen, weshalb er sich vornahm, die Wartezeiten zwischen den Mahlzeiten sinnvoll mit künstlerischer Betätigung zu füllen.

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