Ich hatte in Berlin eine Kollegin, mit der ich viele Jahre zusammengearbeitet habe. Ich will sie hier Carola nennen. Carola ist einige Jahre älter als ich, sie ging dann in Rente, ich ging nach Russland. In den 70ern war Caro eine junge Studentin der sozialen Arbeit. Sie zog von Schwaben nach Berlin und ist mit dem Anspruch angetreten, die Welt zu retten. Sollte das nicht möglich sein, so wollte Caro sie zumindest besser machen. Carola war zweifellos Zeit ihres Arbeitslebens eine hoch engagierte Sozialarbeiterin. So engagiert, dass sie von Zeit zu Zeit in der Absicht, zu helfen, kräftig über das Ziel hinaus schoss.

Caro mag die Musik von Ton, Steine, Scherben, war ein großer Fan von Rio Reiser, kannte ihn sogar persönlich. Sie lebte in Kommunen und WGs, war Zeit ihres Lebens in einer Art fundamentalen Opposition zu den Regierungen der Bundesrepublik, die sie ale reaktionär empfand.
Sie setzt sie sich nach wie vor für Flüchtlinge ein, will das Gute in der Welt befördern. Caro betreibt ein eigenes Flüchtlingsprojekt in ihrer Freizeit. Sie näht mit Gleichgesinnten Taschen in afrikanischem Stil und verkauft sie auf Flohmärkten mit der Werbeaussage, sie seien von afrikanischen Flüchtlingen angefertigt. Die Einnahmen kämen diesen Flüchtlingen und dem Projekt zugute. Caro betrügt dabei nicht andere, sondern vor allem sich selbst. Dass sie auch nur einen Cent für sich behält, halte ich für ausgeschlossen. Alles kommt tatsächlich dem Projekt und Flüchtlingen zugute, nur haben Flüchtlinge an Carolas Projekt kaum einen Anteil. Es ist vor allem ein Projekt von Deutschen Sozialarbeiterinnnen.
Warum sollten Flüchtlinge aus Afrika Taschen nähen? Der Gedanke ist reichlich absurd. Sie bekommen Bürgergeld. Sie schneien vermutlich nur dann mal rein, wenn sie sozialarbeiterische Unterstützung in einer Behördenangelegenheit brauchen, die Caro dann für sie erledigt.
Selbstverständlich ist Caro Antifaschistin. Damals, zumindest, in den 70-ern, auch noch in den 80ern. Ihrer Auffassung zufolge ist sie das auch noch heute, denn sie ist gegen die AfD.
Wir hatten einst einen kleinen Disput, weil Carola eines Morgens freudestrahlend ins gemeinsame Büro kam und verkündete, den Nazis von der AfD hätte man es jetzt mal gezeigt. Was der genaue Anlass war, weiß ich nicht mehr. Ich meine, ein Gericht hat der AfD irgendetwas verboten. Ich sagte, aber das Problem in Deutschland ist doch nicht die AfD. Das Problem ist Deutschland. Alles wird zensiert, verboten, die Meinungsfreiheit eingeschränkt. Die braune Gefahr ist nicht die AfD. Die braune Gefahr ist alles, was gerade in Deutschland passiert, sagte ich damals irgendwann im Jahr 2021.
Caro meinte, soweit sei es in Deutschland noch nicht. Ich weiß nicht, ob sie tatsächlich dort teilnimmt, aber Caro ist die ideale Oma gegen Rechts. Sie wurde von den Umständen umgekrempelt und hat es nicht gemerkt. Vom Willen beseelt, die Auferstehung des Faschismus in Deutschland verhindern zu müssen, befördert sie ihn. Sie hat die Seiten gewechselt und unterstützt jetzt die Regierung in ihrem Kampf gegen die Opposition. Ihr Seitenwechsel ist ihr ebenso entgangen, wie ihr Selbstbetrug bei ihrem Flüchtlingsprojekt.
Sie hat die syrischen Flüchtlinge im Jahr 2014 begrüßt. 2022 fuhr sie nach der Arbeit regelmäßig zum Berliner Hauptbahnhof, um die Flüchtlinge aus der Ukraine in Empfang zu nehmen und mit ihren Know-How als Sozialarbeiterin zu unterstützen. Dass der Westen auf einen möglichst langen Krieg in der Ukraine abzielt, wollte mir Carola damals nicht glauben. Sie hält Russland für eine Diktatur und Putin für einen Diktator. So steht es in der Zeitung. Wir haben uns wegen unserer unterschiedlichen Haltung zum Ukraine-Konflikt gründlich verkracht.
Caro bekannte mir gegenüber, ein Tagesspiegel-Abo abgeschlossen zu haben, was mich ratlos zurückließ. Die taz findet sie nicht mehr gut, erklärte sie in diesem Zusammenhang. Die Lokalberichterstattung beim Tagessspiegel sei aber gut, meinte sie.
Ich frage mich regelmäßig, wer bereit ist, freiwillig dafür Geld auszugeben, um sich mit Fake-News, Desinformation und Propaganda abfüttern zu lassen. Die Antwort war, Carola war dazu bereit. Mit Studium, mit viel Lebenserfahrung, mit einer langen grundlegend kritischen Einstellung gegenüber Deutschland und seinen Regierungen, die nun aber aufgegeben wurde – das sind die Abonnenten des Mainstreams.
Ich denke, Carola ist mit ihrer Biographie nicht allein. Die von der Regierung geförderten Demonstrationen gegen die Opposition zeigen, Carolas gibt es in Deutschland in ganz großer Zahl. Sie bereiten einer neuen Repression den Weg – aus Angst vor eben dieser Repression.
Dass sie die neue Repression nicht spüren, weil sie von ihr nicht betroffen werden, ist ihnen Hinweis genug, dass es diese Repression gar nicht gibt. Die Fähigkeit zur Empathie und Einfühlung ist ihnen abhanden gekommen und wurde durch vermeintlich einfache politische Gewissheiten ersetzt. In Deutschland ist weitgehend alles in Ordnung, glaubt diese Generation. In Russland und China ist es viel schlimmer. Muss ich an dieser Stelle erwähnen, dass Carola selbstverständlich die Geschichte von den unterdrückten Uiguren glaubt?
Eine ganze Generation ehemals linker, kritischer Bürger ist an sich selbst gescheitert und kommt jetzt da an, wo diese Generation niemals ankommen wollte: in der Unterstützung des repressiven, autoritären Staates, an der Seite ihrer Eltern, deren gemachte Fehler sie nun wie im Zwang wiederholen.
Ein Kommentar zu „Die an sich selbst gescheiterte Generation“