Javier 22

Javiers Haushaltshilfe Johanna hatte es eilig. Zum einen hatte sie die Anweisung, noch vor Javiers Eintreffen das Haus zu verlassen, da dieser es nicht schätzte, dem Personal zu begegnen. Andererseits war ihr ganz besonders heute wenig daran gelegen auf Javier zu treffen, der gerne mal unerwartet früh nach Hause kam, denn sie hatte Zahnschmerzen. Sie wollte daher heute nicht von ihm aufgehalten werden, was er aber gerne tat, wenn er sie antraf. Er behandelte sie dann nicht wie eine professionelle Reinigungskraft, sondern wie ein Dienstmädchen, betraute sie mit Aufgaben, wie “Bring mir mal den Schirm”, “Hilf mir aus dem Mantel” oder “Nimm mal die Kleiderbürste und gehe hier mal über meine Ärmel.”
Johanna ärgerte das, wollte ihren Chef aber auch nicht vergraulen und ließ sich daher auf das Spiel ein, zumal es immer nur um wenige Minuten ging, bis sie schließlich Javiers ungastliche Räume verlassen konnte. Schließlich zahlte er halbwegs gut, auch deshalb, weil sie zweisprachig war und er sie auf Englisch anweisen konnte. Das brachte ihr zwei Euro pro Stunde mehr als durchschnittlich für Reinigungsarbeiten gezahlt wurde. Allerdings empfand sie ihr Salär als deutlich zu niedrig, um von einem neureichen Nichtsnutz wie Javier einer war als Dienstmädchen behandelt zu werden. Um seine Allüren zu ertragen, würde er noch mal mindestens einen Zehner drauflegen müssen, sagte sie sich, war sich aber gleichzeitig sicher, sie würde sich auch für ein enormes Gehalt nicht zum Menschen zweiter Klasse degradieren lassen.
Im Grunde war es absurd, dachte sie bei sich. Javier hätte gerne eine Art Magd, kann sich das aber nicht leisten und ist auch nicht in der Lage die damit einhergehende Verantwortung zu tragen. Er bezahlte alles Cash, bar auf die Hand, ohne Unterschrift, ohne Steuern, ohne Sozialversicherung, erwartet aber eine Ergebenheit als würde er lebenslang für einen sorgen. Sie schob ihrem Gedankengang ein “Vollidiot” hinterher, während sie gleichzeitig ihre Handtasche griff, um kurz darauf die Tür hinter sich zu schließen. Wie angewiesen benutzte sie den Hintereingang, damit Javier, der standesgemäß den Vordereingang benutzte, nicht gezwungen sei, ihr zu begegnen.
Heute war ihr die verschrobene Standesdünkelei Javiers recht. Sie hatte auf eine Begegnung mit Javier absolut gar keine Lust, denn sie hatte bevor sie Javiers Wohnung in Ordnung brachte, bereits einen Zahnartztermin gehabt. Jetzt ließ die Betäubung nach und sie sehnte sich nach Hause. Das viele Bücken und wieder Aufrichten waren der schnellen Heilung sicherlich abträglich, war sie sich sicher. Es pochte in ihrer Wange. Warum hat sie nicht einfach frei gemacht, dachte sie jetzt bei sich. “Ach ja, wegen der Kohle!”, war die unmittelbare Antwort, die sie sich gab.
Zu Hause angekommen setzte sie sich an den Küchentisch und öffnete ihre Handtasche, um ihr die Schachtel Ibuprofen zu entnehmen, die sie nach dem Zahnarzt auf dessen Anweisung und Rezept in der Apotheke geholt hatte. Doch sie fand sie nicht. Sie musste sie entweder in der U-Bahn oder bei Javier liegen lassen haben. Sie versuchte sich zu erinnern, aber es gelang ihr nicht. Anscheinend vernebelte die Betäubung doch ihr Gehirn.
Nach einigem Zögern griff sie schließlich zum Telefon und wählte Javiers Nummer. In sevilem, fast unterwürfigen Ton entschuldigte sie zahllose Male für die Störung und schilderte ihr Anliegen. Javier, der eben nach Hause gekommen war, nutzte die Gelegenheit für eine gönnerhafte Geste, indem er sagte, sie könne sich selbstverständlich mit ihren Problemen und Fragen jederzeit an ihn wenden und ja, er würde jetzt ihr zuliebe in die Küche gehen und nachsehen, ob da eine Packung Ibuprofen 400 stand.
Als er die Packung auf dem Tisch stehen sah,sagte er, “Nein, hier ist nichts. Tut mir wirklich leid.” Das Gespräch wurde daraufhin zügig beendet.
Javier nahm die Packung, öffnete sie, entnahm ihr einen Blister und schluckte kurz darauf zehn Ibuprofen. Warum er es tat, wusste er nicht, er erwartete keinen Kick, es war nur Ibuprofen. Ebenso wusste er nicht, warum er gelogen hatte. Er würde Johanna demnächst ein Trinkgeld geben, dachte er. Sie würde sicherlich verstehen wofür.
Ein altes Verhalten hatte ihn überfallen. Es würde sich in den nächsten Tagen verstärken, ihn fester packen. Er war fiel zurück in die Sucht. Später würde auch genau wissen, wer an seinem Rückfall Schuld habe: Johanna und ihre dämlichen Zahnschmerzen.

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