Anarchismus und mystische Erfahrung

Politische Haltungen wurzeln in Menschenbildern. Interessanterweise gibt es da auch nach längerem Nachdenken nicht viele Optionen. Entweder ist das Bild gemalt in den lichten Farben des guten Kerns eines jeden Individuums. Dann gibt es Entwicklung, die Möglichkeit zur Freiheit und Emanzipation, da es dann lediglich die Umstände sein können, die jenes Lichte im Menschen verdunkeln. Oder einem jeden Menschen ist das Böse eingeschrieben, das Träge und Lasterhafte. Dann bedarf es einer strikten Ordnung, einer starken Gewalt, die das Gefüge menschlicher Beziehung zusammenhält und als ursprünglichste aller zivilisatorischen Errungenschaften die Menschheit vor den Menschen schützt.

Diese bloße Zweiteilung und der sich hieraus ergebende Streit der beiden Sichtweisen auf den Menschen durchzieht in unendlichen Wiederholungen und Varianten die Geschichte. In den einzelnen Feldern schlägt das Pendel mal in jene, mal in diese Richtung aus. Mal verlangt der Zeitgeist von der Erziehung die strenge Hand, die Heranwachsende zur Einhaltung von Regeln zwingt, mal möchte Erziehung den Raum stiften, in dem sich Individuen frei in ihr Potenzial entfalten können. Mal gewinnt im Diskurs über beispielsweise das Strafrecht die Idee des Strafens die Oberhand, die Idee, vermittels Strafe potentielle Opfer zu schützen. Und dann wird dies wieder abgelöst von der Idee der Korrektur deformierter Biographien durch Erziehung und soziale Integration, um so durch Einsicht künftige Straftaten zu verhindern.

Selbst in der Ökonomie gibt es diese Bewegung. Mal muss wirtschaftliches Tätigsein reguliert werden, um Menschen Entwicklung, Wohlstand und Freiheit zu ermöglichen, indem man sie vor der brachialen Gewalt entfesselter Märkte schützt, dann wieder kehrt es sich um, und man muss alles und jeden den knechtenden Regeln des Marktes aussetzen, um zu disziplinieren und zu strafen. Wo wir uns historisch befinden, ist damit auch klar. Das Gute daran ist: Diese aktuelle Mode in den Wirtschaftswissenschaften, die ihre Ursache in einem recht eindimensionalen Menschenbild hat, geht vorbei. Bedauerlich ist allerdings der immense Schaden und das Leiden der Menschen, die durch diese Einseitigkeit der vermeintlich wissenschaftlichen Betrachtung und ihre daraus resultierende Wirkungen im politischen Handeln hervorgerufen werden.

Simon Critchley macht in seiner Schrift „Mystischer Anarchismus“ auf einen dritten Weg aufmerksam, der sich von den beiden oben genannten Haltungen fundamental unterscheidet. Während sowohl konservative als auch libertäre Entwürfe als Utopien von der Gegenwart wegweisen, verweist Erfahrung direkt auf den gegenwärtigen Moment. Erfahrung ist nicht auf Zukünftiges oder Vergangenes gerichtet, sondern auf die Gegenwart, Der mystischen Erfahrung ist darüber hinaus die Erfahrung von Freiheit und Wertigkeit eingeschrieben. Sie entwirft im Moment eine Ethik, die nicht metaphysisch ist, sich nicht an Regeln und Gesetzen orientiert, in ihrem Kern anarchisch aber eben nicht chaotisch ist.

Das ausgesprochen Inspirierende an dieser Idee, ist, dass sich hierüber die aktuelle Krise des Politischen lösen ließe. Diese Krise besteht in einer bloß formelhaften Wiederholung bekannter Positionen. Ein Diskurs, der diesen Namen verdienen würde, findet nicht mehr statt. Der Rückgriff auf den Begriff der Erfahrung überwindet diese Stagnaion und führt hinaus ins Offene. Diese Offenheit ist die Bedingung für das Ereignis.

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