Die Kapsel

Es wäre ihm lieber gewesen, sie wären zu Hause geblieben. Er hatte keine Lust auf diese Spaziergänge, zu denen ihn Jens immer Zwang. Einmal am Tag frische Luft. So ein Blödsinn. Er könnte jetzt zu Hause sitzen, vertieft in seinen Roman, eingetaucht in eine andere Welt und Erfahrungen machen. Stattdessen stapften sie hier im Herbstregen durch die Landschaft, ihm war es kalt und ungemütlich. Jens erzählte etwas von „herrlich“ und „wohltuend“. Er wollte aber nur nach Hause. 
„Das ist ein ganz wunderbares Licht, alles wie aus Gold. Wow… da hinten gibt es jetzt noch einen Regenbogen! Unglaublich. Stefan, schau doch mal.“
Jens geriet immer mehr ins Schwärmen, doch in dem Maße, wie die Begeisterung bei Jens zu nahm, nahm sie bei Jens ab. 
„Hier liegt alles voller Laub und Kastanien. Das ist total glitschig durch den Regen, da haut es bestimmt noch jemanden auf die Fresse.“ 
„Sei doch nicht so negativ. Sieht doch toll aus, das gelbe Laub.“
Je mehr Jens Stefan davon überzeugen wollte, wie wunderbar so ein Herbstspaziergang war, desto größer wurde Stefans Widerstand. Würde ihn Jens nicht ständig dazu auffordern, etwas Schönes zu entdecken, hätte er diesem Spaziergang längst etwas abgewinnen können. Doch so blieb ihm nichts als Verweigerung. Ein merkwürdiger Zug, dachte er bei sich, ohne jedoch etwas gegen diese Regung unternehmen zu können. 
Sie waren ein merkwürdig anzusehendes Paar. Jens mit erhobenem Kopf, unentwegt lächeln, ein kraftvoller Ausdruck der Lebensfreude und daneben Stefan, in sich versunken, den Kragen hochgeschlagen und die Mütze tief ins Gesicht geschoben. 
„Autsch! Was ist das jetzt für eine Scheiße?“ Stefan sah nach oben. 
„Was ist jetzt los?“
„Mir ist so eine blöde Dreckskastanie von so einem Scheißbaum direkt auf den Kopf gefallen! Das tut echt weh.“ Stefan versuchte, so viel Empörung wie möglich auszudrücken.
Jens grinste. „Bringt Glück.“ 
„Quatsch! Das habe ich noch nie gehört, das hast du dir ausgedacht. Vogelkacke bringt Glück. Aber auch nur angeblich.“
„Wo ist sie denn hingefallen? Wir nehmen sie mit, als Erinnerung.“
„Irgendwo da.“ Stefan deutete auf eine Stelle unweit von seinen Füßen. 
„Das ist aber eine komische Kastanie.“
Vor Stefan lag ein Gegenstand, der zwar die Größe einer Kastanie, jedoch überhaupt nicht ihr Aussehen hatte. Schon die Farbe war anders. Statt eines satten Braun hatte dieses Ding ein metallisches Grün. Es war auch nicht rund, sondern bestand aus Quadraten und Dreiecken, hatte die Form eines Kuboktaeders. Die einzelnen Flächen hatten so etwas wie dunkle Vertiefungen. Stefan nahm das Ding auf und besah es sich genauer, konnte aber nicht erkennen, ob es sich um so etwas wie Poren handelte, oder ob die Oberfläche geschlossen war.
„Was ist das denn?“ Stefans Neugier war geweckt und seine schlechte Laune schlagartig verflogen.
„Ich habe keine Ahnung. Auf jeden Fall keine Kastanie.“
„Gib mal her!“ Stefan nahm Jens das Fundstück ab. 
„Fühlt sich ziemlich fest an. Kann man auf jeden Fall nicht zusammendrücken.“ 
„Eine Kastanie kann man auch nicht zusammendrücken.“ Jens machte sich lustig.
„Ja, du Pfeife, eine Kastanie sieht aber auch nicht aus, als ob man sie zusammendrücken könnte. Das Ding hier schon.“
„Nimm es mit. Wir gucken zu Hause nach, was es ist. Bestimmt irgendeine Samenkapsel.“
Stefan steckte das grüne Ding in die Tasche. Den Rückweg trat er mit deutlich besserer Laune an, als erwartet. Mit der Hand in der Tasche spielte er an dem Fund. Er hatte das Gefühl, die Samenkapsel würde eine Art pulsierender Wärme ausstrahlen. Sicher war er sich allerdings nicht. 

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