Die Betriebsversammlung 26

Das Klingeln des Weckers zog Gregor Bauer aus einem tiefen, traumlosen, aber viel zu kurzen Schlaf herauf in den anbrechenden Tag. Die Bedeutung des Wortes ‘Morgengrauen’ erschloss sich ihm mit neuem Sinn. Morgengrausen, Morgenhorror, Morgenverzweiflung. Er stöhnte und dachte etwas Vorbegriffliches, das ins Begriffliche übertragen wohl am ehesten einem vollumfassenden, nichts ausschließenden ‘Nein!’ entsprochen hätte.
Zwar hatten Gregor und Olaf ‘Tom’s Lounge’ gegen zehn verlassen und er hätte eigentlich früh zu Bett gehen können. Doch zu Hause angekommen fühlte sich Gregor zu aufgedreht, um zu schlafen. Er war von den drei Bier, die sie in der Bar getrunken hatten, etwas beschwipst aber nicht müde. Er hatte dann seine Freundin Anna angerufen und sich erzählen lassen, wie ihr Tag verlaufen war. Es hatte nicht die erwünschte Ablenkung gebracht. Außerdem hatte sie nicht nach seinem Tag gefragt, was ihn enttäuscht hatte, aber er wollte sich auch nicht aufdrängen. Danach hatte er gehofft, im Kühlschrank noch ein Bier vorzufinden, wurde aber erneut enttäuscht. Er sah nach, was es auf Facebook und Google+ Neues gab, wer seine Kommentare kommentiert und wer seine Bilder gut gefunden hatte, entschloss sich dann, doch noch zur Tankstelle gegenüber zu gehen, um Bier zu kaufen. Er fühlte sich inzwischen zwar müde, war aber immer noch unruhig und aufgekratzt. Noch ein Bier würde ihm helfen, einzuschlafen, dachte er. Er zog sich seine Hose an, die er in der Erwartung das Haus nicht mehr zu verlassen, bereits ausgezogen hatte, streifte sich ein Kapuzenshirt über, griff seinen Hausschlüssel, während er in seine Schuhe schlüpfte und machte sich in auf den kurzen Weg zur Tankstelle.
Es dauerte kaum mehr als zehn Minuten und er war zurück. Statt des einen Bier hatte er sich sechs mitgenommen, um den Kühlschrank aufzufüllen, und eine Schachtel Zigaretten dazu. Gregor hatte sich vor etwa zwei Monaten entschlossen, mit dem Rauchen aufzuhören, doch heute hatte er das Gefühl, eine, nur eine Zigarette würde ihm helfen, zu entspannen und zur Ruhe zu kommen.
Seine Einkäufe legte er für einen Moment auf den Küchetisch, er zog Schuhe, Hose und Kapuzenshirt wieder aus, suchte nun nur noch mit Boxershort und T-Shirt bekleidet den Aschenbecher, den vor sich selbst versteckt hatte. Er fand ihn im Küchenschrank hinter einem Päckchen Zwieback. Er griff sich den Flaschenöffner und nahm mit den sechs Bierflaschen und Zigaretten vor seinem PC platz. Nachdem er eine Flasche geöffnete hatte, nahm er eine Zigarette aus der Schachtel, steckte sie an und inhalierte. Es schmeckte furchtbar und ihm wurde schwindelig. Er war sich absolut sicher, es würde bei dieser einen Zigarette bleiben. Er würde sie lediglich zu Ende rauchen und das wäre es dann. Schmeckte ja wirklich widerlich.
Warum ging ihm nur so viel durch den Kopf, fragte er sich. Diese Gedankenflut soll zur Ruhe kommen. Es geht alles durcheinander. Er dachte an ‘Tom’s Lounge’ und das Gespräch mit Olaf und seinen beiden Freunden, er dachte an die Betriebsversammlung, und fühlte eine diffuse aber auch große Verantwortung, er dachte an Sebastian Markus und musste grinsen. Er wollte noch einen Schluck Bier nehmen, aber die Flasche war schon leer. Er öffnete eine neue und steckte sich noch eine Zigarette an, die nun schon viel besser schmeckte und das Schwindelgefühl kam auch nicht wieder.
Vielleicht sollte er etwas Musik hören. Gregor setzte sich Kopfhörer auf, wobei die Zigarette auf den Boden fiel. “Mist”, dachte er, während er sich bückte. Dabei rollte sein Schreibtischstuhl unter ihm weg, weshalb er der Länge nach auf dem Boden landete. Er fragte sich, ob er betrunken sei, verneinte es, denn er fühlte sich erstaunlich klar. Er sah nun ganz klar, wie heroisch und ethisch hervorragend diese Einladung zur Betriebsversammlung war. Und er hatte das vollbracht. Gregor stand mühsam auf, setzte sich in seinen Stuhl und suchte nach passender Musik. Er versuchte es mit Rammstein. Es passte. Er fühlte sich gut und immer besser. Er lachte laut über die Genialität, die in der Idee lag, einen Betriebsrat zu gründen, auch wenn es ihm nicht gelang, zu fassen, worin diese Genialität nun genau bestand. Er zündete noch eine Zigarette an, in der Hoffnung, dieser beständige Strom aus Gedanken und Ideen würde noch weiter anschwellen. Es machte ihn glücklich. Er dachte wieder an Sebastian Markus und wie blöd er ausgesehen hatte dort am Türrahmen in der Bar. Gregor lachte laut und lange. Er tanzte durch sein Zimmer. Er hatte das Gefühl, er würde zusammen mit Caroline und Olaf etwas bewegen, während alle anderen nur Langweiler waren, die zwar jammerten, sich aber auch bereitwillig in ihre Opfersein fügten. Er lachte wieder und tanzte weitere. Jemand klopfte gegen die Wand. “Spießer”, dachte Gregor und stolperte über ein Kabel. Wieder fiel er zu Boden.
Gregor verlor die Kontrolle in dieser Nacht.  Er trank alle sechs Bier und rauchte nahezu die ganze Schachtel. Gegen halb vier ging er völlig betrunken ins Bett.
Jetzt am Morgen fühlte er sich schrecklich. Er war kaum in der Lage, sich zu duschen und anzuziehen. Sein Magen war in Aufruhr, doch er wusste, wo noch Zwieback zu finden war. Für einen Moment überlegte er, ob er einfach krank machen sollte, doch er verwarf den Gedanken. Sie waren dabei einen Betriebsrat zu gründen. Er hatte Verantwortung übernommen. Außerdem war Freitag. Er würde den Tag überstehen. Irgendwie.

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