Die Betriebsversammlung 27

“Wie siehst du denn aus? Geht es dir nicht gut?” Caroline Gottschalk war eben in die Straßenbahn eingestiegen, hatte sofort Gregor Bauer entdeckt, sich zu ihm gesetzt und unmittelbar bemerkt, das etwas nicht stimmte.
“Nein, alles in Ordnung. War nur spät gestern.”
“Du hast ganz rote Augen.”
“Ich habe nur ein paar Stunden geschlafen.”
“Und du riechst ziemlich nach Alkohol. Was hast du gestern noch getrieben?”
“Eigentlich nichts. Ich war mit Olaf ein Bier trinken. Was hast du denn gestern noch gemacht?” Gregor Bauer wollte nicht über den weiteren Verlauf seines Abends erzählen.
“Ich hatte ein recht interessantes Gespräch mit Julius George. Der ist jetzt mit Miriam zusammen. Und der wird von Schmidt und Tietz total verarscht. Wusstest du, dass er nebenher arbeitet? Der arbeitet, um ein Praktikum machen zu können. Ist das nicht total verdrehte Welt?”’
“Mit Miriam zusammen?”, fragte Gregor, mehr damit beschäftigt, den Schein der Fähigkeit zur Unterhaltung zu wahren, als wirklich interessiert. Er hatte beständig das Gefühl, von seinem Sitz zu rutschen.
“Ja, Miriam und Julius, stell dir vor! Sie wollen sogar zusammen ziehen. Julius braucht nur einen Job. Es wäre sonst blöd wegen dem Jobcenter, wegen Bedarfsgemeinschaft und so.”
“Bedarfsgemeinschaft?” Gregor wiederholte ein Wort, das ihm im Gedächtnis geblieben war. Sie waren eben in eine Haltestelle eingefahren. Gregor sah auf die Uhr am Bahnsteig und rechnete. Wenn alles gut ging, wäre er in 8 Stunden und 7 Minuten wieder zu Hause und könnte sich ins Bett legen.
“Ja. Julius will zwar kein Hartz IV beantragen, aber falls er es doch müsste und er würde dann mit Miriam zusammen wohnen, wären sie eine Bedarfsgemeinschaft und Miriam müsste für Julius’ Unterhalt aufkommen. So ganz habe ich es auch nicht verstanden.”
“Miriam wohnt mit Julius zusammen?”
“Nein! Du hörst mir überhaupt nicht zu!”
“Ich glaube, ich bin noch blau”, gab Gregor zu. “Ich hoffe, ich überstehe den Tag.”
Caroline biss sich auf die Unterlippe und überlegte einen Moment.
“Kommt Olaf im selben Zustand ins Büro? Das wäre ziemlich blöd.”
“Vermutlich nicht, ich habe mich gestern allein abgeschossen. Das war ein Versehen.”
“Wenn wir im Büro sind, trinkst du sofort Kaffee. Hast Du was gegessen?”
“Einen Zwieback”, antwortete Gregor.
“Gut. Hier ist eine Aspirin. Die nimmst du nachher”, sagte Caroline nachdem sie in ihrer Tasche gekramt und fündig geworden war.
Gregor war dankbar, auch wenn er diese Dankbarkeit in diesem Moment nicht zeigen konnte. Er versuchte zu lächeln, hatte aber das Gefühl, ihm wäre bestenfalls eine Fratze geglückt.
Bei SCHOW angekommen schleuste Caroline Gregor zunächst in die kleine Teeküche, um ihn mit Kaffee wieder auf die Beine zu bringen. Sie erlebten zwei Überraschungen. Zum einen gab es keinen Kaffee und alle Utensilien, die man zum Kaffeekochen brauchte, waren nicht mehr vorhanden. Die Kaffeemaschine fehlte ebenso wie Filter und Kaffeepulver. Die zweite Überraschung saß unmittelbar neben der Küche, denn in der Nische, in der Olaf Graf bisher allein gesessen hatte, saß nun Sebastian Markus neben ihm.
“Was machst du denn hier?”, wandte sich Caroline an Sebastian Markus.
“Feindbeobachtung”, antwortete Sebastian und Olaf Graf zuckte ratlos mit den Schultern.
“Das ist nicht dein Ernst? Kommt das von Tietz oder von Schmidt?” Caroline vergaß für einen Moment Gregor Bauer, der sich in der Teeküche an der Spüle abstützte.
“Ich werde dir keine Informationen geben, die ihr für euren scheiß Betriebsrat verwenden könnt”, antwortete Sebastian Markus deutlich lauter als angemessen.
“Sebastian hat einen schlechten Tag, weil es gestern in Tom’s Lounge später geworden ist. Er hat sich aufreißen lassen.”
“Du linke Schwuchtel, ich hau dir eine aufs Maul, wenn du hier so einen Scheiß verbreitest.” Sebastians Drohung wurde eher zischend als lautstark vorgebracht.
“Was machst Du in Tom’s Lounge?”, fragte Caroline zu Sebastian gewandt.
“Er hat uns gestern den ganzen Abend beschattet”, antwortete Gregor aus der Teeküche anstelle von Sebastian. “Wir sind da rein, weil wir dachten, dann sind wir ihn los, aber er kam uns nach.”
“Ihr versteckt euch in einer Schwulenbar vor einem Kollegen, der euch beschattet? Ich habe irgendwas Entscheidendes nicht mitbekommen, oder?”
Gregor überlegte zu sagen, so schlimm sei es nicht gewesen, denn Olaf und er hätten einen netten Abend mit Olafs schwulen Freunden verbracht. Als er aber daran dachte, dass Caroline dann auch darüber zu informieren sei, dass zwar Olaf, aber er selbst nicht schwul wäre, verwarf er den Gedanken als zu aufwendig in der Umsetzung. Er würde jetzt einfach mal versuchen, die Spüle loszulassen,  um einen Schritt aus der Küche zu tun, um dort der Unterhaltung zu folgen. Zu seinem Erstaunen konnte er eigenständig stehen, ohne umzufallen.

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