In den letzten Tagen wird viel von Wertegemeinschaft und Freundschaft gefaselt. Der Westen, so liest man gern und häufig, sei eine Wertegemeinschaft, die sich vom Rest der Welt abhebt. Dieser Abgehobenheit ist es vermutlich auch geschuldet, weswegen man mit eben diesem Rest der Welt eigentlich nur hierarchische Beziehungen pflegt, gerne mal Anweisungen gibt, was andere Länder und Regionen zu tun und zu lassen haben, weswegen man ganz generell ein bisschen von oben runter blickt, oder die Kommunikation einfach gleich ganz verweigert. “Wertegemeinschaft” als Begründung für einen weitgehend kolonialen Politikstil.
Die westliche Wertegemeinschaft ist transatlantisch. Sie umfasst die USA und Europa. Im Hinblick auf Europa gilt es jedoch zu differenzieren.
Wirklich richtige Werte gibt es nämlich nur in Kerneuropa. Je weiter nach Süden oder Osten man geht, desto weniger kompatible Werte haben diese Länder doch mit uns. Im Süden scheint die Sonne, die Menschen sind daher nicht so arbeitsam und fleißig, machen viele Schulden, sind korrupt und leisten sich ganz generell ein System, das sie sich genauer betrachtet gar nicht leisten können. Im Osten ist es bitterkalt und irgendwie postkommunistisch, was auch ziemlich unheimlich ist.
Wenn wir jetzt schon bei einer genaueren Betrachtung sind, dann muss es erlaubt sein zu sagen, dass die westliche Wertegemeinschaft im Kern lediglich aus den USA und Deutschland besteht. Saubermann Deutschland und Musterdemokratie USA. So stellt es sich zumindest dar, wenn man Zeit und SZ, Tagesspiegel und Handelsblatt ein bisschen hermeneutisch liest, das heißt den Tenor der dort veröffentlichen Meinung in den einzelnen Beiträgen miteinander verbindet – das große transatlantische Freundschaftsbündnis, das in gemeinsamen Werten wurzelt: Freiheit und Demokratie.
Okay, okay. Das ist alles totaler Quatsch, eine einzige chauvinistische Scheiße. Das weiß jeder. Nichtsdestotrotz wird es einem jeden Tag um die Ohren gehauen.
Die USA teilen mit uns keine Werte, zumindest nicht diejenigen, die hier eben genannt wurden. In den vergangenen zwanzig Jahren, mit dem Ende des Kalten Krieges haben sich die USA immer weiter vom Völkerrecht abgewandt, haben gefoltert und foltern immer noch, rücken von der Todesstrafe nicht ab, halten Menschen ohne Gerichtsverfahren fest, töten Menschen ohne jedes Gerichtsverfahren, Überwachen alle Bürger der westlichen Welt, jede Email, jedes Telefonat, jede Kurznachricht, jede GPS-Ortung. Sie vererben Präsidentschaften vom Vater auf den Sohn, wie in der Familie Bush, demnächst wird das Amt vermutlich unter Ehepartnern weitergereicht. Auch sonst sind die politischen Ämter recht fest in der Hand von einigen wenigen gut kapitalisierten Familien. Das klingt alles so gar nicht nach lupenreiner Demokratie, oder?
Die Vereinigten Staaten von Amerika sind keine Partner die irgendwelche Werte mit uns teilen. Das hoffe ich zumindest. Ich müsste mich sonst für mein Land, meinen Kontinent zutiefst schämen.
Innerhalb Europas, zwischen Ural und dem Atlantik teilen wir seit Jahrhunderten zwar auch nicht die gleichen Werte, aber wir haben eine gemeinsame, eng verwobene Geschichte. Aus dieser Geschichte heraus können und müssen wir dieser Geschichte eingedenkend lernen. Lernen bedeutet dann, gemeinsame Werte und Ziele zu entwickeln. Wobei diese nur darin bestehen können, dass die Bürger in dieser Region Europa selbstbestimmt in Frieden und Wohlstand leben können. Wir müssen innerhalb Europas die Menschen wieder zum politischen Subjekt und zum Mittelpunkt allen politischen Handelns erheben. Die Europäische Union als Gedanke, nicht als gegenwärtiges Gebilde, weißt den richtigen Weg. Das gegenwärtige Gebilde EU kann nur ein Zwischenschritt sein, den es zu überwinden gilt und so Raum schafft für dieses größere Projekt eines Europa der Bürger. Das kleinliche Ost-West- und Nord-Süd-Denken müssen wir hintanstellen. Banken und Konzerne müssen wir zwingen, sich der Verwirklichung von Selbstbestimmung, Frieden, Wohlstand und Verständigung unterzuordnen.
In der Verwirklichung dieser Werte für alle Bürger und der Verständigung zwischen den Regionen Europas zeigt sich dann, was es heißt, aus einer gemeinsamen erlebten Geschichte zu lernen. Es bedeutet, Fehler nicht zu wiederholen und Grenzen des Denkens zu überwinden. Das sind die Werte, die wir als Europäer im Blick haben sollten. Sie sind weitaus bedeutender als transatlantische Bündnisse mit einem Land, das die Wende zur Postdemokratie schon längst vollzogen hat.