Javier 20

Mit seinen Charaktereigenschaften, seinem Mangel an Empathie, seinem tiefen Bedürfnis, andere Menschen zu manipulieren, und mit seiner Gier nach Materiellem und Konsum war Javier der perfekte Protagonist auf einem sich nur an Angebot und Nachfrage ausrichtenden Kunstmarkt, der immer weniger die Kunst und immer mehr den Markt im Blick hatte.
Noch immer hält sich das Gerücht hartnäckig, es ginge bei zeitgenössischer Kunst um das, was man beispielsweise auf einer Leinwand zu sehen bekommt. Selbst Javier glaubte oft daran, zumal dann, wenn er von irgendwelchen Substanzen völlig zu in der Birne war. Er glaubte an seinen Geschmack und daran, einen Instinkt für Kunst zu haben. In nüchternen Momenten wurde ihm dann deutlich, wie wenig es um das Sichtbare geht. Es geht vielmehr darum, was sich hinter der Leinwand abspielt, welche Marketingstrategie gefahren wird, wer wem welche Renditen auf welcher Grundlage verspricht, es geht ausschließlich um Netzwerken, Public Relations, Gewinn und Spekulation. Das Sichtbare nimmt in der zeitgenössischen Kunst eine all dem untergeordnete Rolle ein.
Das ist spätestens seit der Entfesselung der Finanzmärkte so, die ziemlich zügig Kunst als hochspekultative Investmentmöglichkeit entdeckt hatten. Seitdem explodieren die Preise, werden Unsummen gezahlt, werden Künstler in den einschlägigen Hochglanzblättern hochgeschrieben, um sie dann zielgerichtet fallen zu lassen, wenn die Erträge eingefahren worden sind. Es bildeten sich zwei unterschiedliche Karrierelaufbahnen von Künstlern. Ganz grob gesagt, eine Art von Künstlern, mit denen hohe Preise erzielt werden, deren Werke aber nie in den Museen, sondern bestenfalls in Tresoren von Banken landen, und die Künstler, die auf den Biennalen und in den staatlichen Museen rund um die Welt gezeigt werden, die aber immer nur mittlere Preise erzielen.
Mit den Reagonomics ging diese unsinnige Entwicklung los, erst zaghaft, dann immer schneller. Als Javier um das Jahr 2000 sich selbst zum Kunstkenner ernannte, war die Hysterie schon im vollen Gange und ein Charakter wie Javier ein willkommener Teilhaber an der großen Party des Geldes. Zusammen mit Japanese Goth Kid gab Javier den Entertainer, den Kunst-Clown für die Reichen und Ultrareichen und wurde dafür mit einem Teil deren Geldes überhäuft.
Javier war in dieser Zeit so sehr auf Koks, dass er nicht eine Minute an daran dachte, sein Erfolg könnte nicht seinem unfehlbaren Geschmack zu verdanken sein, sondern an einem ausgesprochen günstigen Umfeld liegen, das für die Vermehrung von Geld auch kuriose Anlagemöglichkeiten in Betracht zieht. Er tänzelte mit einem goldenen Shirt und dem Aufdruck “MOMs best boy” auf Parties, gab zugekokst den Grüßaugust bei Empfängen, fand es total cool Dollarscheine auf eine tanzende Menge regnen und sich für diese Primitivität in Kunstmagazinen euphorisch besprechen zu lassen. Javier glaubte an sich, je mehr Koks er durch die Nase gezogen hatte, desto stärker wurde dieser Glaube. Woran er auf keinen Fall glaubte, war, dass ein System, eine politisch-ideologische Entscheidung ihn nach oben gespült hatte, er an seinem Erfolg daher weitgehend unschuldig war. Und an noch etwas anderes glaubte er nicht. Nämlich daran, dass all dies, was er da tat, völlig sinnleer war. Javier rechnete tatsächlich damit, eines Tages eine herausragende Position in den Lehrbüchern der Kunstgeschichte einnehmen zu können. Wie wenig wahrscheinlich das war, konnte er sich gar nicht ausmalen.

2 Kommentare zu „Javier 20

  1. Sehr schön. Habe den Mann scharf vor Augen und stelle mir eine mal in schwarz-weiß, mal in Farbe gehaltene filmische Umsetzung dieser Charakterstudie vor. Erinnert mich an den Film „American Psycho“.
    Bin außerdem nach dem Lesen des ganzen Textes hinreichend irritiert und auch deprimiert. Kompliment.
    Darf ich fragen, in welchem Umfang Javier einer realen Persönlichkeit entlehnt ist?

    1. Nun ja, was soll ich sagen? Ich bin nicht anders, als alle anderen Schreiberlinge auch. Man kann nicht wirklich genuin etwas erfinden. Man kann sich lediglich von der Wirklichkeit inspirieren lassen.

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