Aus eigenem Antrieb hat sich Javier nie prostituiert. Zwar hat seine Mutter ihn für finanzielle Gegenleistung ihren Männerbekanntschaften zugeführt, jedoch geschah dies vor aller Befähigung zur Freiwilligkeit. Javier war viel zu jung, sieben oder acht Jahre mag er gewesen sein, als es zum ersten Mal geschah. Doch wurde damit damals eine Struktur festgelegt, in der sich Javiers Leben aufhalten sollte. Zu einschneidend war das frühe Erlebnis des Missbrauchs. Als Kind verfügte Javier in keiner Weise über die Ressourcen es zu verarbeiten. Aus seinem familiären Umfeld konnte er keine Hilfe erwarten. Also wurde schon ganz früh für Javier die Vielfalt menschlichen Handlungsspektrums im Umgang mit anderen begrenzt. Er konnte in Beziehungen zu anderen Menschen nur zwei einander ausschließende Haltungen einnehmen: Entweder war er Freier, derjenige, der bezahlte und dafür einen Service und Dank erwartete, ohne auf die Gefühle seines Gegenübers Rücksicht nehmen zu müssen. Oder er war in der Rolle der Hure, die einen Service anbot, um unter Rückstellung ihrer eigenen Bedürfnisse und unter Vorspielen von Lust eben dafür entlohnt zu werden, wobei dieser Lohn der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und dem Lustgewinn diente. Je älter er wurde und je mehr Substanzen er konsumierte, um so mehr kamen ihm anfänglich noch zart vorhandene Schattierungen abhanden. Javier lebte in dieser Zweiteilung.
Mit diesem Minimum an Handlungsvarianten ausgestattet war es Javier kurz nach der High School dennoch gelungen seinem Ghetto zu entkommen. Ein reicher Gönner war fasziniert von dem jungen, umtriebigen, oft unabsehbar launischen Latino und bereit, ihn in seinem Haus aufzunehmen, die Studiengebühren zu bezahlen, Javier mit Kreditkarte und Statussymbolen auszustatten. Als Gegenleistung erwartete er vor allem einen getreuen Zuhörer, einen vorzeigbaren Partner, mit dem er sich in einer schwulen Öffentlichkeit zeigen konnte, einen verständnisvollen Partner, der ohne Murren zu Hause blieb, wenn die zu besuchende Öffentlichkeit nicht ganz so liberal war. Ach ja; von Zeit zu Zeit etwas väterliches Kuscheln erwartete Will auch noch von Javier, was diesem aufgrund seiner frühen Prägung nicht allzu viel abverlangte.
In seiner Familie fiel die Abwesenheit Javiers kaum auf. Kurz nach seinem Auszug starb sein Vater an einer langen, schweren Krankheit, die seinen Bewegungsradius immer weiter einschränkte, bis sie selbst das Atmen begrenzte. Seine Mutter war nach wie vor von ihren Männerbekanntschaften fasziniert, seine Großmutter mit Valium ruhig gestellt und seine beiden Brüder waren im Alter und in ihrer Entwicklung so weit von Javier entfernt, dass sie sich nicht für dessen Angelegenheiten interessierten.
Will hatte viel Geld geerbt, musste nicht arbeiten und war in der Lage, seinen Lebensstil auf großem Fuß zu führen, interessierte sich für Philosophie, vor allem aber für Kunst, wodurch Javier ein Zugang eröffnetet wurde, der ihm familiär verschlossen geblieben war.
Die beiden reisten viel, besuchten zahllose Ausstellungen und Vernissagen, waren mal in New York, weil ein angesagter Künstler dort gezeigt wurde, mal in L.A. oder Paris, weil dort gerade etwas stattfand, was man nicht auslassen konnte. Javier hatte das Gefühl, endlich zu bekommen, was er verdiente: Luxus, Geld, ein bequemes Leben. Javier wurde von Will finanziell bestens ausgestattet. Es gelang Javier, nahezu unbemerkt beträchtliche Summen beiseite zu schaffen. Wenn es doch bemerkt wurde, dann wurde Javier nur mit freundlichem Zwinkern bedacht. Will war sich der geschäftsmäßigen Ausrichtung seiner Beziehung zu Javier wohl bewusst, auch wenn es das Kriterium der Prostitution sicherlich nicht erfüllte. Es dauerte dafür schlicht zu lange. Für Javier jedoch sollte das beiseite geschaffte Geld die Grundlage für seine erste Galerie werden.
Javier schaffte mit viel Mühe, Geduld und ein bisschen Beischlaf mit einem Dozenten trotz seiner damals schon ausgeprägten Sucht einen Hochschulabschluss. Es war ihm gelungen, eine Substansverlagerung von den lähmenden und betäubenden Benzodiazepinen, dem Valium und Rohypnol hin zu Amphetamin und Koks hinzubekommen, wodurch er leistungsfähiger wurde. Abends drei, vier Valium zum Einschlafen, morgens etwas Koks oder Speed zum Wachwerden. Sein väterlicher Freund Will wusste von gelegentlichem Konsum, dem er selbst fröhnte. Es war daher immer was im Haus. Von dem wirklichen Ausmaß ahnte er nichts. Er hätte es aber auch nicht weiter schlimm gefunden. Ihren Alkoholkonsum schätzte Will fast schon realistisch als weit mehr als risikoreich ein, aber es war ihm egal. Er hielt es für ein Mitbringsel seines Lebensstils. Wer morgens nicht raus musste, konnte auch tagsüber viel trinken. Alkoholiker war für Will eine Erkrankung der arbeitenden Bevölkerung, weil es dort auffiel, wenn jemand seine Leistungen nicht mehr erbringen konnte. Er hatte diese These in seinem Kreis schon häufiger mit viel Erfolg vertreten. Javier übernahm diese Sicht bereitwillig. Er war neunzehn als er zum ersten Mal abfällig über die Süchte der Arbeiter herzog, denen er niemals ausgesetzt sein würde, weil er einer anderen Klasse angehörte. Es war ihm applaudiert worden, wobei die Claqueure mindestens ebenso viel Koks in der Birne hatten wie Javier.
Als Javier nach Abschluss des College die Beziehung mit Will infrage stellte, war es für ihn eine große Überraschung, mit wie wenig Dramatik alles vonstatten ging. Javier hatte lange Diskussionen, eine Eskalation, Tränen und Geschrei erwartet. Er wollte Intrigen und viel Aufhebens im gemeinsamen Freundeskreis, so wie es in seinen Lieblings-Soaps gezeigt wurde. Doch es passierte etwas ganz anders. Will sagte, es sei kein Problem, gab ihm zwei Wochen Zeit, auszuziehen und zog sich in der Zeit auf die Bahamas zurück. Javier stellte fest, wie wenig es einen gemeinsamen Freundeskreis gegeben hatte. Alle gemeinsamen Bekannte waren Wills Freunde, die ihre Türen für Javier nun geschlossen hielten, ihm ganz höflich mit ganz fadenscheinigen Begründungen lächelnd absagten.
Javier beauftragte einen Makler, der sich für ihn nach einer standesgemäßen Unterkunft umsehen sollte. Schon am darauffolgenden Tag hätte Javier umziehen können. Als er jedoch erste Auslagen bezahlen wollte, stellte er fest, dass seine Kreditkarte nicht mehr funktionierte. Will hatte sie gesperrt. Javier sah sich gezwungen, zu günstigerem Wohnraum zu greifen. Dies und die Tatsache, einen Job annehmen zu müssen, empfand er als Demütigung. Er erhöhte daraufhin seinen Benzodiazepinkonsum und reduzierte das Koks. Javier nahm sich vor, seine Beziehungen künftig aus der Position des Freiers heraus zu gestalten. Das bot den Vorteil der Unversehrtheit. Er konnte geben, wenn er zu geben gedachte und konnte wegnehmen, wenn es ihm an der Zeit schien. Die Möglichkeit menschliche Beziehung durch Nähe, Teilnahme und Miteinander zu gestalten, kam Javier nicht, er hatte so etwas nie erfahren.