Anmerkungen zu Würzburg und Ansbach

Als ich in den Nachrichten las, in Würzburg hätte ein Mann mit einer Axt Mitreisende in einem Zug schwer verletzt und getötet, war das erste, was ich dachte, wo ist eigentlich mein Patient Herr Sowieso, wollte der nicht nach Süddeutschland für eine Woche?

Wenn Herr Sowieso seine Neuroleptika absetzt, was er regelmäßig tut, da er unter ihren Nebenwirkungen leidet, fängt er an kommentierende Stimmen zu hören und seine Wahrnehmung von Welt verrückt sich. Er wird dann im eigentlichen Sinne des Wortes verrückt. Wegen der Stimmen, aber auch aus anderen Gründen, die mit dieser Verrückung zu tun haben, hatte er auch schon häufiger eine Axt bereit gestellt, wobei er regelmäßig androhte, mit ihrer Hilfe sein Recht auf Ruhe und Reizarmut in einer Welt nachdrücklich durchsetzen zu wollen, die für den Lärm und die Reizflut in ihm nichts konnte. Wenn das passiert, trifft sich unmittelbar eine ganze Schar aus Mitarbeitern der Sozialpsychiatrie, um zu beraten, was zu tun sei. Wie sich wenig später herausstellte, war es Herr Sowieso nicht gewesen. Ich atmete auf.  Wir hatten nicht versagt, nichts übersehen. 

Es gibt unterschiedliche Modelle, die versuchen, zu erklären, wie es zu derart verschobenen Wahrnehmungen von Welt, wie es zu Psychosen kommt. Alle haben Vor- und Nachteile, völlig schlüssig erklären kann keins das Entstehen von Psychosen. Von einer Vorhersage, wann, wer in welcher Form von einer Psychose betroffen sein wird, und in welcher Form sie sich dann äußern wird, sind wir himmelweit entfernt. Vermutlich wird das auch niemals zu erreichen sein. Genauso wenig, wie wir vorhersehen können, aus welchem Neugeborenen ein Schwuler oder eine Lesbe wird, wer süchtig werden wird, wer zu den Hochbegabten und wer zu den Versagern zählen wird, genauso wenig können wir vorhersehen, wer von Wahnsinn befallen werden wird und wer nicht. Wir wissen nur, dass es in einem statistisch relevanten Umfang passieren wird.

Weitgehend anerkannt ist das Vulnerabilitäts-Stress-Modell für die Erklärung, wie Psychosen entstehen. Es besagt, sie entstehen aus einer Vielzahl von Faktoren. Genetische Disposition spielt dabei eine Rolle, biographische Faktoren ebenso und natürlich Stress.

Man kann daher auch sagen, je höher der Stress in einer Gruppe ist, desto mehr Mitglieder antworten darauf mit psychotischem Verhalten. Welche Individuen das konkret sein werden, lässt sich nicht vorhersagen.
Das lässt aber auch den Umkehrschluss zu, dass es in stressarmen Gruppen weniger Psychotiker gibt. Völlig eliminieren kann man das Phänomen nicht. Wir müssen alle gemeinsam damit leben. 

So, das war wieder eine viel zu lange Einleitung.

Jetzt zum Hauptteil: Was in den letzten Dekaden immer schneller zugenommen hat, ist der gesellschaftliche Stress, den westliche Gesellschaften ihren Mitglieder zumuten. Da ist zum einen der zunehmende ökonomische Druck durch das neoliberale Modell, das zu Arbeitsverdichtung, Ausgrenzung, abnehmender sozialer Sicherheit und damit verbunden zu einem hohen Anpassungsdruck führt.

Begleitet wird dies spätestens seit dem 11. September 2001 durch eine immer weitergehende Aufspaltung in Gruppen und Untergruppen, die gegeneinander in Opposition gebracht werden. Die künstlich gezüchtete Angst vor dem Islam ist hierfür das Paradebeispiel. Es gibt darin eine hohe rassistische Komponente, denn ob Einzelne dem Islam zugeschrieben werden, hat mehr mit deren Hautfarbe und Aussehen als mit deren Glaubensbekenntnis zu tun.

Bestes  und daher ganz kurz erzähltes Beispiel: Wir erinnern uns, dass die USA den Irak angegriffen haben, wegen dessen vermeintlicher Verbindung zu Al Kaida, dabei war der Irak ein säkularer Staat, der mit Religion recht wenig am Hut hatte. Aber Saddam Hussein sah irgendwie so aus als ob. Durch diese Verbindung von Aussehen und Inhalt, durch diesen Rassismus wurde medial der Krieg gegen den Irak möglich gemacht, damit aber auch der IS geschaffen. Das ist der tragik-komische Witz, den uns Geschichte hier erzählt.

Durch diesen Rassismus werden in unseren Gesellschaften auch Psychotiker geschaffen, denn der gesellschaftliche Druck auf Muslime und auf Menschen, die so aussehen als wären sie Moslems, ist enorm gestiegen. Sowohl Orlando als auch die Attentate hier in Deutschland lassen sich mit dieser Erklärung viel besser und tiefer fassen, als mit der, es handele sich hier um Islamisten, die sich blitzschnell radikalisiert hätten. Das ist, mit Verlaub, absoluter Blödsinn. Dass er in deutschen Talkshows vorgetragen und in den Gazetten weiterverbreitet wird, bezeugt den akuten Fachkräftemangel, der im deutschen Qualitätsjournalismus herrscht. 

Schließt man sich der Erklärung an, dass Stress und Druck Psychotiker produzieren können, die dann zu schrecklichen Taten in der Lage sind, hat das allerdings auch Konsequenzen für den Umgang mit dem Phänomen.
Dem “Wir schaffen das” müssen Mittel zur Verfügung gestellt werden, damit dieses Schaffen auch gelingen kann. Doch genau das passiert nicht. Aus diesem Grund ist die Kritik Sahra Wagenknechts an der Kanzlerin mehr als berechtigt. 

Wenn Menschen im Krieg leben, bedeutet das Stress, wenn Menschen sich auf den Weg machen, um dem Krieg zu entfliehen, bedeutet das Stress, wenn sie Verwandte zurücklassen, bedeutet das Stress, wenn diese Menschen Hindernisse auf diesem Weg überwinden, bedeutet das Stress, wenn Menschen dann ankommen und eingepfercht werden, bedeutet das Stress, wenn sie sich beständig rechtfertigen und erklären müssen, bedeutet das Stress.
Der ganze Rahmen, den der Westen da geschaffen hat und aufrecht erhält, ist ideal für das Entstehen von Psychosen. Wollte man dagegen angehen, müsste ein engmaschiges Netz der psychosozialen Versorgung gespannt werden, um das abzufedern und rechtzeitig auf Entwicklungen reagieren zu können, bevor Schaden entsteht. Aber das kostet freilich Geld. Dieses Geld auszugeben, ist die Bundesregierung nicht bereit. Es ist vermutlich auch nicht in ihrem Sinne.

Aber auch umgedreht bedeutet das Ankommen von einer großen Zahl von Menschen, die dann auf Unterstützung angewiesen sind, für diejenigen Stress, die jetzt schon von dieser Unterstützung leben, weil sie mit den immer weiter steigenden Anforderungen nicht mithalten können. Es bedeutet Stress, weil diese fürchten, von dem Wenigen, das ihnen zugesprochen wird, noch abgegeben zu müssen. Wenn diejenigen, die jetzt gerade mal einen befristeten Arbeitsvertrag zum Mindestlohn erhalten haben, hören, da strömt eine große Zahl an Menschen in den Arbeitsmarkt, die um genau diese Jobs im unteren Segment konkurrieren werden, dann bedeutet das Stress. Wenn Menschen gesagt wird, ihr werdet von der Rente nicht leben können, müsst aber bis mindestens siebzig arbeiten, weil wir Flüchtlinge aufnehmen mussten, bedeutet das Stress.
Es ließe sich fortsetzen, belegt werden soll hier nur, wie die deutsche Gesellschaft inzwischen unter enormem Druck steht, der sich in Einzelnen anstauen und auch in Einzelnen entladen wird. Das wird solange gehen, wie diese Einzelnen das Gefühl haben, keine Stimme zu haben, die gehört wird, dass sie keiner Gruppe zugehören, die ihre Interessen vertritt.

Man kann das alles auffangen und abfedern, wenn man denn will, aber das kostet Geld. Sicherheit zu erzeugen, kostet Geld. Und wenn diese Sicherheit real sein soll, muss sie sich als Gefühl äußern, von der Gesellschaft getragen und nicht im Stich gelassen zu werden. Man nennt das soziale Sicherheit. Sie ist wichtig für das Funktionieren einer Gesellschaft.
Doch genau dieses Gefühl von sozialer Sicherheit wurde in den letzten Dekaden mit aller Brutalität und Vehemenz zerstört.
Polizei, Militär und flächendeckende Überwachung sind die denkbar ungeeignetsten Mittel, um Amokläufen zu begegnen. Ich habe herzlich gelacht, als ich Merkels Neun-Punkte-Plan gelesen hatte. Der deutsche Fachkräftemangel reicht offensichtlich bis ins Kanzleramt. Wenn man Sicherheit möchte, müsste man nur den Sozialstaat wieder auf- und ausbauen. Eine Grundgesetzänderung ist dazu nicht notwendig. Im Gegenteil.

Weil das aber alles unterbleibt, ist das Merkelsche Mantra vom „Wir schaffen das“ einfach eine Lüge, da die Voraussetzungen zum Gelingen nicht bereitgestellt und gesellschaftliche Gruppen gegeneinander in Opposition gebracht werden.

Zudem könnten künftige kriegsbedingte Traumata ganz erfolgreich dadurch bekämpft werden, indem man den Krieg beendet und sie könnten minimiert werden, indem man Waffenlieferungen in Krisengebiete unterlässt. Doch auch dazu ist die Bundesregierung nicht bereit.

Man könnte Flucht bedingten Stress dadurch minimieren, indem man das Flüchtlingswerk der UN mit den Mitteln ausstattet, die man zugesagt hat. Auch das unterlässt die Bundesregierung.

Sahra Wagenknecht hat mit ihrer Kritik an Merkel recht. Unrecht haben diejenigen, die Wagenknecht kritisieren, und die auf diese Weise den die Gesellschaft absichtsvoll spaltenden Kurs Merkels stützen.

Aber man muss in der Analyse noch einen Schritt weiter gehen. Das, was in Orlando, Ansbach und Würzburg passierte, sind Entladungen von enormem Druck, den eine Gesellschaft erzeugt, die sich selbst immer weiter radikalisiert, die sich zuspitzt.

Wir merken das alle. Die Anzahl der Sätze, die wir äußern dürfen, ohne ausgegrenzt, reglementiert, diffamiert oder einfach nur verlacht zu werden, werden immer weniger. Alternative Ansichten und Meinungen haben immer weniger Platz. Ein Diskurs wie ihn eine Demokratie zum Funktionieren braucht, findet auf keiner Ebene mehr statt. In den Mainstreammedien schon gleich zwei mal nicht.  Er wurde ersetzt durch Reglementierungen und Verbote, Hetze, Sprechverbote, durch Listen des Sagbaren und des Unsagbaren.

Der Anpassungsdruck ist enorm, die Zurichtung des Einzelnen zu einem dem System ökonomisch und politisch dienliches Objekt, nimmt immer sadistischere Züge an. Dass das nicht gut gehen kann, ist klar. 

Wer nicht Refugees Welcome ruft, ist sofort brauner Mob, ohne dass auch nur ein Argument getauscht worden wäre. Wer für Russland Position ergreift, ist Putinversteher, ohne dass nur ein Moment sachlich argumentiert worden wäre. Wer gegen Austerität redet, will auf Pump leben. Wie widerwärtig.

Es ließe sich beliebig fortsetzen. Der Diskurs in Deutschland ist auf seinem intellektuellen Tiefpunkt angekommen und trägt autoritäre, repressive Züge. Damit aber schafft er genau die Bedingung, deren es zum Entstehen von Psychosen bedarf. Wir werden uns daher noch lange mit dem Phänomen auseinander setzen müssen. Nicht nur, weil wir Kriege am laufenden Band produzieren. Sondern auch, weil unsere Gesellschaft immer enger und engstirniger wird. Das Problem Amoklauf ist im wesentlichen hausgemacht. Es sagt etwas darüber aus, wie wir miteinander umgehen. 

4 Kommentare zu „Anmerkungen zu Würzburg und Ansbach

  1. Klasse Artikel.
    Es ergreifen viel zu Wenige vom Fach das Wort.

    Einer Gesundheitsministerin hätte das, was da mit den gewalterfahrenen Menschen in Form von Flüchtlingen auf uns zu kommt, nicht nur wissen können, sondern wissen müssen, so sie vom Fach wäre. Aber heutzutage ist, wie Sie so schön sagten, niemand mehr vom Fach. Selbst im Bundeskanzleramt nicht.

  2. Keine Frage, Sie haben da einiges Bedenkenswerte zusammengetragen. Die beiden ersten Absätze musste ich erst einmal vorsichtig sacken lassen, bevor ich die Lektüre fortsetzte.
    Viel Richtiges, wie gesagt. Aber: „Man kann das alles auffangen und abfedern, wenn man denn will, aber das kostet Geld. Sicherheit zu erzeugen, kostet Geld.“ Da sind sie ganz nahe bei der besten Kanzlerin von allen. Ihre Fachkompetenz in allen Ehren, aber ein derartig gigantisches Arbeitsbeschaffungsprogramm für die Therapeutengilde wird ohne gewisse von Ihnen diskret angedeutete Kollateralverunfallungen (Absatz drei) nicht abgehen können. Engpässe bezüglich Terminvereinbarungen werden temporär unvermeidbar sein, da die schon länger hier Lebenden zunehmend ebenfalls des Zuspruchs bedürftig werden wollen dürften. Finanziell und fachlich schaffen *wir* das allemal, vorausgesetzt wir ignorieren die sonstigen Großbaustellen des Imperiums souverän. Genaugenommen gehören zum Geldausgeben wie zum Therapieren immer zwei, womit der vorige Satz einen Anflug von Relativierung erfährt. Aber sei’s drum, das letzte Wort hat immer noch die Kanzlerin.
    Nichts für ungut – und freundliche Grüße.

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