Immer, wenn ich aus Russland zurück komme und in der Berliner Ring-Bahn in Richtung nach Hause sitze, denke ich über Armut nach. Es ergibt sich nahezu zwangsläufig, denn es grenzt an Sicherheit, dass in der Berliner S-Bahn mir irgendjemand einen Becher unter die Nase hält, in den ich Geld einfüllen soll, dass jemand seine traurige Geschichte über Drogenabhängigkeit und Obdachlosigkeit erzählt, in der Hoffnung, so mein Herz zu ergreifen und mich so dazu zu bewegen, ein paar Cent locker zu machen, dass irgendjemand singt oder musiziert, damit das mit einer Spende bedacht wird.
Ich denke deswegen über Armut nach, weil ich das für den Zeitraum meines Aufenthalts in Russland nicht gesehen habe. Richtig gelesen: nicht (!) gesehen habe. Das enorme Ausmaß von Armut in der Bundesrepublik wird nach dieser Zeit der Entwöhnung immer besonders sichtbar. Nach ein paar Tagen nehme ich es schon wieder als selbstverständlich hin.
Ich weiß: Das entspricht in keiner Weise dem Klischee, das man hier über Russland hat. Es entspricht auch in keiner Weise dem Klischee, das wir uns über uns selbst gebildet haben. Wir sind ein reiches Land. Es geht uns gut. Doch so etwas wie die kleine Zeltstadt, die sich unterhalb des Bundeskanzleramtes angesiedelt hat, habe ich in Russland nie gesehen. Deutschland geht es gut.
Beruflich bin ich gleichsam darauf trainiert, Armut zu sehen. Ich erkenne meine Pappenheimer sofort. Die Junkies und Schizophrenen, die durch alle Netze fallen und dann mit Tüten bepackt durch die Straßen ziehen, diejenigen, die aus dem Knast in die Obdachlosigkeit entlassen werden, die aussortiert werden, weil sie den zunehmenden Belastungen gerade im Niedriglohnsegment nicht entsprechen können. Wenn es Armut gibt, dann sehe ich sie. In Russland sehe ich keine. Es gibt da ein paar Omas, die an den Metro-Stationen versuchen, sich mit dem Verkauf von Blumen etwas dazu zu verdienen. Da scheint was mit der Pension schief gegangen zu sein. Aber das erreicht in keiner Weise das Ausmaß, das es hier erreicht.
Als ich im Jahr 2015 auf der Krim war, da sah ich ein bisschen was, von dem, was man auch hier bei uns kennt. Einige schmutzige Männer, die mit Tüten bepackt durch Simferopol zogen. Offensichtlich eine Hinterlassenschaft der Ukraine, denn im darauf folgenden Jahr gab es sie schon nicht mehr.
Ich habe in einem Artikel über Archangelsk geschrieben, dass es dort das Phänomen der Armut wie wir sie kennen, nicht gäbe. Einer kommentierte, dass er dort sehr wohl Armut gesehen hätte. Die Menschen dort seien bettelarm. Ich wollte wissen, wie Armut denn dort aussähe und machte meine Kriterien transparent. Ich schaue nach Obdachlosen, bepackten Menschen, die ihre Habe mit sich führen, Lagerstätten unter Brücken, in Eingängen und geschützten Bereichen. Ich sehe dort nichts. Vielleicht habe ich die falschen Kriterien und Armut hat in Russland ein anderes Gesicht. Eine Antwort kam nie.
Irgendwas läuft da anders als hier. Irgendwie bekommen wir das nicht mit, was da anders läuft. Es besteht der begründete Verdacht, dass wir das auch auf gar keinen Fall mitbekommen sollen, denn das würde Fragen aufwerfen, deren Beantwortung uns alle verunsichern könnte.
Eine leider menschliche Eigenschaft ist es, den Splitter im Auge des Nachbarn zu sehen und nicht den Balken im eigenen. Tausend Jahre Märchenbuch Bibel haben nichts daran ändern können…
Es gab sie, die Armut, unter Jelzin und sie wurde uns auch immer vorgeführt. Die Strassenkinder, die Leim-Schnüffeln als Drogenersatz und in den U-Bahnschächten hausten. JETZT gibt es nichts davon mehr, keine Bettler, keine Obdachlosen…..und, ihr könnt sicher sein, wenn es sie gäbe…unsere Medien würden uns das tagein tagaus präsentieren. So wie das eben ist mit den eigenen Balken vor den Augen..