Erschöpfungzustände

Die Erzählungen, an die zu glauben wir bereit waren, haben ihre Kraft verloren. In ganzer Breite und Tiefe glauben wir nicht mehr an die Narrationen der Moderne. Nicht an die Erzählungen von Freiheit, von Selbstbestimmung und -entfaltung, nicht an die Erzählung von Demokratie, nicht an die Erzählung der Gleichheit vor dem Gesetz und an die von den gleichen Chancen.
Und wir glauben nicht, dass es sich hierbei um eine vorübergehende Krise handelt. Wir glauben vielmehr an das Ende der utopischen Kraft der Moderne, denn wir glauben nicht, dass sich das, was in den letzten Jahren Schaden genommen hat, wieder herstellen lässt. Die demokratisch legitimierten Institutionen sind erschöpft und werden zunehmend durch bürokratisch organisierte Institutionen ersetzt. Die EU-Kommission ist hierfür ein herausragendes Beispiel. Ohne demokratisch legitimiert zu sein, erschafft sie Vorschriften, die über das Wohl von Menschen gesetzt werden.
Wir glauben auch nicht, dass Einrichtungen außerhalb des Rechts, dass Einrichtungen wie Guantanamo aus politischer Einsicht geschlossen werden. Wenn alles gut läuft, dann eventuell wegen Überalterung der Insassen, nicht aber, weil ihnen ein fairer, rechtsstaatlicher Prozess gemacht, sie dann in Freiheit entlassen oder im regulären Strafvollzug untergebracht worden wären. Der wahrscheinlichere Fall ist allerdings, dass Räume außerhalb jeder Rechtsstaatlichkeit, für die der Name Guantanamo stellvertretend steht, immer häufiger und mit immer weniger Beachtung eingerichtet und, so sie schon bestehen, ausgebaut werden. In Deutschland ist es die Psychiatrie, die den Raum außerhalb der Rechtsstaatlichkeit bereit hält. Der Fall Mollath und die hessische Steuerfahnder-Affäre, vor allem aber die achselzuckende Gleichgültigkeit, mit der auf beide Fälle reagiert wird, ist es, die es wahrscheinlich erscheinen lässt, dass künftig häufiger von psychiatrischer Kaltstellung Gebrauch gemacht wird. In Deutschland, das ist recht einfach zu prognostizieren, wird sich die Zahl der Insassen der forensischen Psychiatrie kontinuierlich weiter erhöhen. Wir sehen dies, wir wissen darum, haben aber nicht die Kraft dagegen anzugehen. Wir sind erschöpft.
Wir wissen auch, dass wir massiv überwacht und ausgespäht werden. Ausgespäht in einem Umfang, der sogenannte Unrechtsregime wie Kindergarten aussehen lässt. Alles, wirklich alles, was es an elektronischer Datenübermittlung gibt, wird archiviert und die Archive werden permanent von Programmen durchforstet, Profile angelegt und Kontakte ausgewertet. Ein unglaublicher Vorgang, denn hier setzen sich die Geheimdienste als autoritäre Schattenregierungen ein, die jeglicher Kontrolle enthoben sind. Sie dirigieren die Exekutive und umgehen die Legislative und die Judikative. Wir nehmen das Ende der Gewaltenteilung hin, widerspruchslos, völlig erschlafft, denn wir glauben gar nicht mehr daran, dass sich dieses Rad zurückdrehen lässt. Wir glauben schon längst nicht mehr an die Institutionen der Demokratie. Wir wissen, wie hohl sie sind. Nur noch Karriereplattform sind die Parlamente, das wissen wir, daher rührt es uns auch nicht, wenn wir hören dieser Abgeordnete oder jener Minister sei in diese oder jene Firma, in diese oder jene Kanzlei oder Beratungsgesellschaft gewechselt.
Und die Kriege die wir unter den unterschiedlichsten Namen führen, die humaniären Missionen und Einsätze, die mit medienwirksamen Lügen beginnen, es sind alle verloren. Es bleibt ein Scherbenhaufen im Kosovo, im Irak, es wird einer bleiben in Afghanistan. Nach „mission accomplished“ bleibt die Instabliliät, die Armut und die Verzweiflung. Wir ahnen, dass man Demokratie nicht in Nationen hineinprügeln kann, aber das Versagen an den gesteckten Zielen ist uns egal. Wir glauben unseren eigenen Erzählungen nicht mehr, haben aber auch keine neuen, die wir erzählen könnten. Wir sind auf dem Rückzug vor einer neuen Ordnung, die langsam sichtbar wird, einer technokratischen und autoritären Ordnung, die die westlichen Demokratien in diesem Moment ablöst, indem sie sie von innen heraus auflöst, ihre Institutionen und Begriffe innen hohl werden lässt, bis nur noch dünne, kraftlose Hüllen übrig bleiben. Und wir haben anscheinend nicht die Kraft, dagegen anzugehen, denn obwohl die Zeichen für die Realität dieser Entwicklung so eindeutig sind, bleibt es doch unheimlich ruhig.

Ein Kommentar zu „Erschöpfungzustände

  1. Ganz genau.

    Es ist aberwitzig, wie rasant sich die Welt in eine Richtung bewegt hat, von der man noch vor wenigen Jahren angenommen hat, daß sie sich vielleicht niemals dorthin drehen wird.
    Die Verblüffung von Menschen, die beispielsweise in den Achtzigern noch gegen die Volkszählung protestiert haben, muß nachgerade phantastisch sein.

    Diese „utopische Kraft der Moderne“, die einmal quer durch alle Schichten den Fortschrittsglauben und die Nivellierung der Klassenunterschiede befördert hat, ist schon vor langer Zeit notgedrungen, weil seit einigen Jahrzehnten ausschließlich im wirtschaftstheoretischen Rahmen des Neoliberalismus stattfindend, in die ganz und gar unkreative, spaltende Kraft des Feudalismus der sogenannten Märkte transformiert worden. Geglaubt haben wir nicht nur daran, daß wir es schaffen können, innerhalb dieses Systems zufrieden zu leben, sondern auch, daß uns jemand oder etwas auffangen kann, sollten wir aus irgendwelchen Gründen nicht mehr mithalten können. Auch dem macht diese Lehensherren-Ideologie jetzt einen Strich durch die Rechnung.

    Das sind natürlich reine Formalitäten; es schmerzt mich, daß auch mein Kulturpessimismus auf eben der Stufe angelangt ist, die Du beschreibst.

    Aber: die Mühlen der Geschichte mahlen langsam; es gibt viele, die dieses Schmierentheater auf Dauer nicht mehr mitmachen werden; sei es weil sie nicht mehr können, oder weil sie zornig sind; es werden täglich mehr, und es wird eine Veränderung kommen, denn die kam bisher immer. Auch wenn es bislang nicht danach aussieht.

    Gruß
    alarmimweltall

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