In der Szenebar Loft unterhielten sich zu diesem Zeitpunkt Miriam, Julius und Caroline. Wolfram Tietz war es tatsächlich gelungen, Miriam völlig umzukrempeln. Allerdings war sie weniger in Sorge um sich und ihren Arbeitsplatz. Ihr Anliegen war das Fortkommen des Praktikanten Julius George, mit dem sie seit Kurzem eine Affäre hatte, die sich in Richtung einer festen Bindung entwickelte, weshalb ihr sein Wohlergehen nun sehr am Herzen lag. Er hätte jetzt schon so viele Praktika absoviert, er hätte jetzt ein Recht auf eine feste Anstellung, war Miriams Position. Schmidt hätte Julius auch eine Festanstellung in Aussicht gestellt, doch das Vorhaben, einen Betriebsrat zu gründen, würde das jetzt durchkreuzen.
“Warum kann der Schmidt seine Versprechen nicht einlösen, wenn wir einen Betriebsrat gründen wollen?”, fragte Caroline, die den Zusammenhang nicht verstand.
“Weil es einen Einstellungstopp gibt. Der Betriebsrat wird teuer, sagt der Tietz. Da können keine neuen Leute eingestellt werden. Und Julius braucht so dringend eine Stelle. Der kann doch nicht den Rest seines Lebens Praktikum machen und nebenher in einer Kneipe arbeiten.”
“Du arbeitest nebenher noch in einer Kneipe? Wie schaffst du das denn?”, fragte Caroline sich Julius zuwendend.
“Die Alternative wäre Hartz IV. Mensch Caroline, ich bin jetzt Mitte zwanzig, ich will es alleine schaffen und nicht immer auf die Hilfe von anderen angewiesen sein. Ich habe doch eigentlich alles, Abitur, Ausbildung, inzwischen auch Erfahrung durch all die Praktika, meine Zeugnisse sind gut und überall wird einem was von Fachkräftemangel erzählt. Ich bin eine Fachkraft und bekomme keine Stelle. Mein Hobby ist inzwischen, Bewerbungen zu schreiben. Früher hatte ich auch mal andere Interessen, aber ich habe kaum noch Freizeit. Ich verbiege mich in jede Richtung und trotzdem läuft immer alles nur auf noch ein Praktikum oder einen Minijob raus. Das kann doch nicht sein!”
Julius erzählte, er arbeite an den Wochenenden und an zwei Abenden in der Woche in einer Kneipe, um damit den Luxus eines unbezahlten Praktikums finanzieren zu können. Seine Eltern würden ihm zwar von Zeit zu Zeit etwas zustecken, aber sie wären auch eher knapp, da sie sich ein Eigenheim zugelegt und sich dafür verschuldet hatten.
Caroline wusste nicht, was sie sagen sollte. So ganz grundlegend anders war es ihr nicht ergangen. Auch sie hatte nach ihrem Architekturstudium zahllose Bewerbungsschreiben verfasst und eine unüberschaubare Anzahl an Praktika absolviert, bis sie schließlich bei SCHOW GmbH als Kundenbetreuerin gelandet war. Ziemlich fachfremd zwar und auch in keiner Weise ihrer Qualifikation entsprechend, aber immerhin mal ein Job mit Arbeitsvertrag und ohne Befristung. Caroline wusste, wie sich Julius fühlte, und es tat ihr sehr leid. Aber sie sah auch, wie wenig diese Situation mit der Gründung eines Betriebsrates zusammenhing. Schmidt konnte sein Wort halten oder es brechen, gerade so, wie er wollte. Die Verbindung zum Betriebsrat schien eher instrumentalisierender Natur.
“Der Tietz und der Schmidt nutzen eure Angst nur aus, um was gegen die Gründung eines Betriebsrates unternehmen zu können”, meinte Caroline.
“Inwiefern?” Julius sah zunächst Caroline, dann Miriam fragend an.
“Ach komm, Julius, wie viele Praktika hast du bei SCHOW jetzt schon gemacht? Das dritte, oder? Faktisch hast du hier schon über ein Jahr für Umme gearbeitet, wenn die dich bezahlen wollten, hätten sie es schon längst getan. Was waren denn die letzten Male die Gründe, warum sie dir keinen Vertrag angeboten haben?”
“Beim ersten Mal meinte Schmidt, Investitionen in Hardware hätten Vorrang. Und beim zweiten Mal war es mein Versehen. Der Tietz hat gemeint, als sie mich zum Abteilungsleiter gemacht haben, hätte ich darauf hinweisen müssen, dass ich Praktikant sei. Das ich das nicht getan habe, hat einen ungünstigen Eindruck hinterlassen. Das sähe so aus, als würde ich mir Kompetenzen anmaßen.”
Caroline riss die Augen auf. “Mensch Julius! Die verarschen dich. Merkst du das nicht? Der Schmidt kauft jede Woche irgendwas. Server, Lüfter, Klimazeugs, was weiß ich. Und jede Woche fliegen Leute raus und werden neue eingestellt, ohne jede Überlegung. Und bei dir tun sie so, als wäre in der Firma alles wohlüberlegt und geplant. Und was deine Beförderung zum Abteilungsleiter angeht: Das haben doch Schmidt und Tietz verbockt. Die haben sich absolut lächerlich gemacht. Was kannst du dafür, dass die nicht wissen, wer hier ein Praktikum macht und wer nicht? Suche die Schuld doch nicht bei dir.”
“Ich sehe doch selbst, wie unfair und gelogen das alles ist, ich bin ja nicht blöd. Aber was soll ich denn tun? Ich muss doch mitspielen, oder?” Caroline sah, wie Julius’ Augen feucht wurden.