Er ließ das Telefon lange klingeln. ‘Tietz’ stand auf dem Display. Er war nicht in Stimmung. Schließlich griff Olaf Graf doch zum Hörer und meldete sich.
“Bitte mal in mein Büro kommen”, sagte Tietz am anderen Ende der Leitung. “Und die anderen beiden mitbringen. In fünf Minuten. In Ordnung?”
“Es könnte etwas länger dauern”, sagte Olaf, um einfach aus Prinzip nicht sofort zuzustimmen. Diese Kleingeistigkeit, die er sonst an sich nicht wahrnahm, war ihm sofort unangenehm.
“Einfach möglich machen und nicht lange reden”, erwiderte Tietz.
Während Olaf Graf auflegte, um sofort erneut zum Hörer zu greifen und Caroline Gottschalks Nummer zu wählen, überlegte er, ob an Marcel Kempkers Theorie in Bezug auf das Lispeln von Wolfram Tietz etwas dran sein könnte. War in dem, was Tietz eben gesagt hatte, wirklich kein Wort mit S dabei gewesen? Klang es deswegen oft so geschraubt und verdreht, fragte er sich.
“Wir sollen hoch zum Tietz”, sagte er, als Caroline abgenommen hatte und so seinen Gedankengang unterbrach. “Er hat jetzt Zeit für uns.”
“Wann?”, fragte sie.
“Jetzt sofort.”
“Ich bin gerade mitten in einer Sache, ich brauche noch zehn Minuten.”
“Er wollte uns gleich sehen. Erledige das nachher. Und gibt Gregor Bescheid. Wir treffen uns dann gleich im Foyer.” Olaf war im Stress. Er merkte es in diesem Moment selbst. Was sonst könnte der Grund sein, fragte er sich, Caroline in einer Weise unter Druck zu setzten und zur Eile aufzufordern, gegen die er sich vor noch nicht einmal einer Minute zur Wehr gesetzt hatte. Er diagnostizierte ein tiefes Bedürfnis nach Erholung bei sich. Daher nahm er sich vor, das Wochenende ganz ruhig anzugehen.
Als er sich auf den Weg ins Foyer machen wollte, kam Sebastian Markus aus seiner Unterredung mit Sonja zurück. Als er sich setzte, meinte er zu Olaf: “Aha! Der Herr Betriebsrat gönnt sich eine Pause und lässt wieder andere für sich arbeiten. Sauber! Der Herr Betriebsrat macht es richtig. Bloß nicht die Hände schmutzig machen.”
“Nein, ich gönne mir keine Pause. Ich muss zum Tietz. Wo warst du denn in der vergangenen Stunde?”
“Darauf bin ich dir keine Antwort schuldig. Wir sind hier nicht in der DDR! Noch nicht zumindest. Ich werde euren STASI-Betriebsrat verhindern, komme, was da wolle!”
“Sebastian, du hast echt einen Knall!” Olaf Graf wandte sich zum Gehen, drehte sich dann noch einmal um, stützte sich mit beiden Händen auf Sebastians Schreibtisch und blickte über dessen Monitore. “Jeder Klick, jeder Telefonanruf, jede Spur von Information, die wir im System hinterlassen wird von Schmidt ausgewertet. Und wenn die Statistik mal nicht in Richtung Wachstum und gesteigerter Leistung deutet, dann kannst du beim Tietz auftanzen, der dir, je nachdem wie er geschlafen hat, einen Vortrag über den Erfolg der Firma hält, zu dem jeder beitragen müsse, oder er drückt dir gleich die Kündigung in die Hand. Aber diese Form der Überwachung findest du wohl in Ordnung.”
“Es ist Schmidts Firma, er kann hier tun und lassen was er will. Er hat die Kohle!”
“Wir bringen ihm die Kohle, mit der er dann uns gegenüber geizt. Mensch Sebastian, lass dich doch nicht so benutzen! Es geht nur um ein bisschen mehr Gerechtigkeit.”
“Nimm deine dreckigen Finger von meinem Schreibtisch! Ihr seid einfach nur rote Schwuchteln!”
Olaf richtete sich auf, zuckte mit den Schultern und ging.
Im Foyer warteten Gregor und Caroline bereits. “Wo bleibst du denn?”, wollte sie wissen.
“Sebastian hat noch mit mir gesprochen.”
“Hat er sich entschuldigt?”, fragte Gregor, der inzwischen etwas besser aussah und nicht mehr ganz so intensiv nach Alkohol roch.
“Nein. Wir sind alles rote Schwuchteln. Besonders Caroline.”
“Klingt plausibel”, meinte Caroline lachend.
“Es stresst mich schon”, gab Olaf zu. “Ich bin froh, hier in ein paar Stunden raus zu sein. Sonst werde ich selbst noch ausfallend. Das wäre vermutlich genau das, worauf Tietz und Schmidt warten.”
“Dich trifft es auch besonders hart. Das verteilt sich ab Montag hoffentlich gleichmäßig auf uns alle drei. Dann ist es einfacher zu ertragen.”
“Ich hoffe eher, es lässt nach. Wir haben erst ein paar Tage hinter uns. Wenn das bis zur Betriebsversammlung so bleibt, wird es ziemlich hart. Sollen wir uns nach der Arbeit nochmal treffen und überlegen, auf was wir uns noch einstellen müssen?”, fragte Olaf in die Runde.
“Ich muss nachher zum Bahnhof. Ich fahre übers Wochenende zu meinem Freund”, antwortete Caroline. “Bei mir wird es leider nichts.”
“Ich bin total erledigt. Wenn, dann nur ganz kurz. Höchstens ein Bier”, kam von Gregor.
“Wann bist du denn wieder zurück?” wandte sich Olaf an Caroline.
“Sonntag Nachmittag. Ihr geht nachher auf ein Bier und haltet mich auf dem Laufenden, okay? Wir können uns am Sonntag Abend treffen, wenn es notwendig sein sollte.”
“Alles klar, dann gehen wir jetzt mal zum Tietz”, sagte Olaf.
“Was sollen wir da eigentlich?”, fragte Gregor.
“Du bist immer noch nicht ganz wach, oder? Wir wollen ihn dazu bringen, dass er Sebastian Markus davon abhält, uns zu bespitzeln”, antwortete Olaf.
“Und gewalttätig zu sein”, fügte Caroline hinzu.
“Gut, dann los. Aber ihr müsst sprechen. Ich kann immer noch nicht. Ich würde Mist erzählen” sagte Gregor einsichtig.