Während sich die drei zurück an ihre Arbeitsplätze begaben und Wolfram Tietz damit beschäftigt war, die von ihm als Bedrohung empfundene freie Zeit des Wochenendes zu verplanen, lief Roland Schmidt in seinem Büro auf und ab. Sonja saß bei ihm. Die Zeiten des Einblicke Gewährens waren allerdings vorbei. Sie saß auf der Fensterbank, die Arme vor der Brust verschränkt und blickte grimmig.
Roland Schmidt hatte sich in Wut geredet, Sonja Zand wurde nicht müde, Öl ins ohnehin lichterloh brennende Feuer zu gießen.
Roland Schmidt war außer sich, denn er fühlte etwas, das er in seinem Leben noch nicht sehr oft zu fühlen bekommen hatte: Widerstand. Da wagten es drei Menschen, auf die er gewohnt war, herabzublicken, sich ihm in den Weg zu stellen. Für Roland Schmidt ein unglaublicher Vorgang. Niemals würde er diesen drei dahergelaufenen Möchtegern-Chefs irgendeine Form von Rechenschaft ablegen. Niemals! Sonja pflichtete bei und unterstrich die Unverschämtheit des Projektes bei der SCHOW GmbH einen Betriebsrat gründen zu wollen. Frech sei es, ungezogen, die Regeln des Hauses würden nicht beachtet und ihre Kompetenz würden die drei weit überschreiten, der gesamte Friede würde gestört.
“Genau! Es läuft hier alles bestens! Wir brauchen keine Aufseher”, nahm Schmidt das Thema auf. “Ich kümmere mich gut um meinen Laden, da muss mir niemand dazwischenfunken.”
Sonja fand einige Beispiele, an denen Schmidts Fürsorge sichtbar wurde. So hatte er für eine Angestellte ein alternatives Zeigegerät anschaffen lassen, weil sie nach einem Sturz vom Fahrrad mit der verletzten Hand die Maus nicht gut bedienen konnte. Einer anderen hatte er hundert Euro zur Hochzeit spendiert. Das wäre doch total nett gewesen, denn er hätte das bisher noch nie gemacht. Außerdem sei es noch nie vorgekommen, dass er jemanden unbegründet rausgeworfen hätte. Immer hätte er sich Zeit genommen und seine Entscheidung transparent gemacht. ‘Du passt nicht in die Firma’ sei doch für alle Beteiligten verständlich und nachvollziehbar. Was braucht man da noch einen Betriebsrat?
Roland Schmidt hörte sich Sonjas Argumentation bis zu dem Moment an, an dem sich aus seinem Unterbewusstsein der Gedanke ins Bewusstsein zu schleichen drohte, all diese wohlwollenden Handlungen könnten anderen als reine Willkür erscheinen. Er unterbrach sie.
“Der Tietz macht nichts, du machst nichts, ihr seid genauso selbstsüchtige Arschlöcher wie alle anderen auch. Ihr wollten den Arsch im Warmen haben, aber nichts dafür tun.”
Jetzt war Sonja beleidigt. “Wie bitte?”, rief sie aus und fügte eine Aufzählung an, die darüber Auskunft gab, welch persönliche Entbehrungen sie schon erlitten, welches Engagement sie für ihn und die Firma schon aufgebracht habe. Die Aufzählung endete mit ihrer Schilderung, wie sie sich als einzig verlässliche Person die Tage, vor allem aber Nächte um die Ohren schlagen würde, um ihre im Geheimen arbeitenden Leute zu führen und deren Einsätze zu koordinieren. Schmidt wedelte mit den Händen und sagte „Jaja!“ Sie solle jetzt mal nicht übertreiben. Es wäre gerade mal eine Nacht gewesen, nämlich die gestrige. Und der sogenannte Einsatz sei auch vor elf schon zu Ende gewesen, hielt Roland Schmidt dem entgegen.
Nun entbrannte ein Streit über Sonjas Einsatzbereitschaft und Willen sich für die Firma aufzuopfern. Sie schätzte beide hoch, Roland Schmidt dagegen schätze sowohl das eine als auch das andere niedrig ein. Dann fing er an zu schreien. “Jetzt streiten wir. Dabei sind die Feinde da draußen! Da draußen hocken die Schmarotzer!” Mit großer Gebärde wies er auf die Tür. “Da draußen hocken sie und fressen auf meine Kosten. Ich gebe denen eine Aufgabe, einen Sinn, ich schenke denen ein lebenswertes Leben. Und was bekomme ich zurück? Einen fuck Betriebsrat!” Er war rasend. In seiner Wut packte er einen der beiden Monitore, die auf seinem Schreibtisch standen, riss ihn aus der Verkabelung und warf ihn gegen das Fenster, das zerbarst. Scherben und der Monitor landeten draußen, direkt neben dem Aschenbecher, der die Raucherecke markierte.
“Bist du verrückt!”, rief Sonja Zand, die beinahe am Kopf getroffen worden war.
Roland Schmidt starrte durch das zerbrochene Fenster, drei Raucher starrten zurück. Es war nicht Schmidts Absicht gewesen, das Fenster zu treffen. Jetzt, da es geschehen war, war er jedoch mit dem Effekt zufrieden. “Scheiß Betriebsrat”, rief er seinem Monitor hinterher. Er konnte sich sicher sein, seine Botschaft würde rasche Verbreitung finden.
Das letzte Mal, als Roland Schmidt derart außer sich war, war zu Zeiten seines Studiums gewesen. Er war durch eine Prüfung gefallen. Wie schon zu Schulzeiten machte er dafür nicht seine mangelnde Leistung, sondern seinen Professor verantwortlich, dem er eine persönliche Abneigung unterstellte. Er sei neidisch auf seine Fähigkeiten, meinte er gegenüber seinem Vater, den er dazu zwingen wollte, etwas zu tun. In der Schulzeit hat das gut geklappt, denn Rolands Vater hatte über den Tennisclub gute Verbindungen zu einigen von Rolands Lehrern. Da sich diese Verbindungen jedoch aufs Lokale beschränkten, sein Einfluss daher nicht bis zur Hochschulrektorenkonferenz reichte, sah sich Rolands Vater außerstande, etwas zu tun. Daraufhin zerlegte Roland Schmidt in einem Anfall rasender Wut die gesamte Wohnzimmereinrichtung, schmiss mit Geschirr, massakrierte einen original Klee, den sein Vater sehr schätzte und für viel Geld erworben hatte, und brach, nachdem das gewünschte Ergebnis ausblieb, wenige Tage darauf sein Studium ab.
Als Roland Schmidt einige Jahre später am Grab seines Vaters stand, war er sich ganz tief im Innern sicher, all die Krankheit, das Leid und der unwürdige Tod seines Vaters seien die gerechte Strafe für dessen damalige Weigerung, ihn in seinem Fortkommen zu unterstützen. Alles in ihm wollte seinem Vater ein einziges großes „Ätsch!“ ins Grab hinterherwerfen. Er tat ungeachtet dieser Schadenfreude trotzdem so, als wäre er voller Trauer. Es schien ihm, als müsste er eine Erwartung erfüllen, wodurch er im Verlauf der Feier der Trauergemeinde gegenüber einen tiefen Groll entwickelte, den er nur deshalb nicht auslebte, weil die Veranstaltung rechtzeitig zu Ende war.
Dank eines enormen Erbes, das noch etwas enormer gewesen wäre, hätte er damals den Klee nicht vernichtet, war der Zornesanfall im väterlichen Wohnzimmer für lange Zeit sein letzter richtiger Ausbruch. Roland Schmidt hatte sich eine Welt geschaffen, in der er Druck abgeben konnte, ohne selbst welchen aushalten zu müssen. So war es ihm gelungen, ein Selbstbild zu zeichnen, das ihn als weichen, warmherzigen, kreativen Menschen mit einer Vielzahl weiterer positiver Eigenschaften zeigte. Und mehr noch, sein Umfeld bestätigte ihm dieses Selbstbild. Die Zahl der zu Bruch geworfenen Gegenstände hielt sich in überschaubaren Grenzen, seine Firma prosperierte dank seiner Ideen, seine Angestellten fanden ihn toll und Sonja Zand himmelte ihn aufgrund seines Genies an.
Dass seine Firma auch heute noch Vorlagen via Fax an Zeitungsverlage schicken würde, wäre nicht einer seiner Angestellten auf die Idee mit der Onlinewerbung gekommen, interessiert Schmidt freilich nicht. Der angestellte kreative Geist und Roland Schmidt hatten sich kurz nach Aufkommen der Idee und kurz vor der Änderung des Firmennamens von Schmidt-Werbung in SCHOW – Schmidt-Online-Werbung ohnehin voneinander trennen müssen, da sie beide zu Überzeugung gelangt waren, sie würden nicht zueinander passen. Warum das Arschloch dann gegen die Firma vors Arbeitsgericht gezogen war, verstand Roland Schmidt bis heute nicht.
Roland Schmidt guckte nochmals durch das kaputte Fenster, die Raucher guckten erneut zurück. Er zeigte ihnen den Mittelfinger und riet ihnen, sich möglichst zügig an die Arbeit zu machen. Er überlegte, ob es im Sinne der Effizienzsteigerung sein könne, alle Raucher zu entlassen, nahm sich aber vor, sich zunächst auf die Verhinderung des Betriebsrates zu konzentrieren.