Javier 7

Außer Hannes Knecht war es bisher nur einer Person gelungen, länger als zwei Jahre in Javiers Galerie zu arbeiten. Eine junge Italienerin mit dem Namen einer Blume brachte es auf ansehnliche fünf Jahre Mitarbeit. Auf einem der Höhepunkte seiner Drogenkarriere hatte Javier das Blumenmädchen in einer konkurrierenden Galerie entdeckt. Die Birne voller Koks, die Leber voller Wodka wusste er sofort, nur mit ihr würde seine berufliche Karriere den erwünschten Verlauf nehmen, nur sie würde ihm den Zugang zum italienischen Kunstmarkt ermöglichen.
Er zog alle Register, lud das Blumenmädchen in sämtliche Gourmet-Restaurants der Stadt ein, schickte ihr Blumen nach Hause und in ihre Galerie, was sie gehörig in Argumentationsnot gegenüber ihrem Chef brachte, ging mit ihr auf Parties, versprach ihr das Blaue vom Himmel, das berufliche Paradies auf Erden. Nach drei Wochen war es soweit, das Blumenmädchen war bereit, einen Arbeitsvertrag zu unterschreiben. Nun galt es für Javier nur noch eine kleine Hürde zu überwinden, denn Javier machte niemals Verträge. Er unterschrieb grundsätzlich nichts, was ihn zu irgendetwas verpflichten, an irgendetwas binden könnte. Keiner seiner Mitarbeiter war arbeitsrechtlich einer. Sie bekamen zwar Geld, hatten auch klar gesetzte Rahmen. Aber einen Vertrag hatte keiner. Javier nannte sie Free-Lancer, aber nicht mal diese moderne Form der sklavenartigen Ausbeuterei im Rahmen der Scheinselbstständigkeit war ihm eine Unterschrift Wert. Immerhin bezahlte er seine Sklaven ganz gut, zumindest die, die irgendwas mit Director oder Manager in ihren fantasievoll ausgedachten Berufsbezeichnungen führen durften. Durch den Mangel eines Arbeitsvertrages wusste das Blumenmädchen ihren Wert um eintausend Dollar pro Monat zu steigern. Sie einigten sich auf den Titel ‚Art Director‘ und achttausend Dollar Salär, zahlbar auf jeweils zwei unterschiedliche Konten, die sich bei zwei unterschiedlichen Banken befanden, die wiederum auf zwei unterschiedlichen Kontinenten ansässig waren. Das Blumenmädchen wusste, wie man lästige Steuerzahlungen vermied. Javier zollte ihr dafür Respekt, das Blumenmädchen lächelte.
Ansonsten ist die weitere Geschichte der Zusammenarbeit zwischen Javier und seinem Blumenmädchen schnell erzählt. Entgegen ihrer Absprache, Javier in Kontakt mit den großen italienischen Sammlern zu bringen, bestand die Hauptaufgabe des Blumenmädchens künftig darin, für ausreichenden Nachschub an Drogen zu sorgen. Gleich am dritten Tag überreichte ihr Javier eine Liste mit den Telefonnummern seiner Dealer. Es war fortan an ihr, an allen Orten auf der von Javier bereisten Welt sicherzustellen, dass Javier den substanzbasierten Lebensstil führen konnte, den er für erstrebenswert hielt. Nach drei Monaten kündigte sie innerlich, nahm die 8000 Dollar im Monat, hielt die Klappe und während der Arbeitszeit engen Kontakt mit ihrer Familie über Skype.
Bald hatte sie so viel Geld zur Verfügung, dass sie sich eine schöne und großzügige Altbauwohnung kaufen konnte, die sie ihrer Mutter überschrieb, von der sie einen Mietvertrag erhielt. Das ermöglichte es ihr, beim Sozialamt Wohngeld zu beantragen, denn für den deutschen Staat, der von ihren Auslandskonten nicht wusste, war sie weitgehend mittellos, eine Praktikantin mit einer ganz kümmerlichen Aufwandsentschädigung. Auf diese Weise refinanzierte der deutsche Steuerzahler das Eigentum des Blumenmädchens. Die zuständige Sachbearbeiterin beim Sozialamt riet dem Blumenmädchen, Hartz IV zu beantragen. Für einen Tag überlegte sie, ob sie es tun sollte und recherchierte. Sie entschied sich dagegen. Es war nicht ihr schlechtes Gewissen, das sie abhielt. Das Geld hätte sie gerne mitgenommen. Der Aufwand war ihr schlicht zu hoch.
Dieser massive Sozialbetrug flog nie wirklich auf. Zwar war das Blumenmädchen bei aller Cleverness so beschränkt, ihre Korrespondenz mit dem Sozialamt über ihre Emailadresse bei der Galerie abzuwickeln. Doch die Vorgänge wurden nur Galerie intern publik, denn nachdem sie gefeuert worden war, wurden die Emails des Sozialamtes an sie weitergeleitet mit der Bitte, sie möge den Absender darüber informieren, wie sie künftig zu erreichen sei.
Javier hatte volles Verständnis für Steuervermeidungsstrategien bis in die Illegalität hinein. Alle seinen Geschäfte wurden zwar physisch in Deutschland abgewickelt, rechtlich fanden sie jedoch in den USA statt, denn dort fällt auf Veräußerungen von Kunst keine Mehrwertsteuer an. Javier unterhielt ein weit verzweigtes Netz an Firmen, bei dem niemand mehr richtig durchblickte, er selbst am wenigsten. Dieses Netz diente nur einem Ziel: Steuervermeidung. Er findet es zwar selbstverständlich, die hiesige Infrastruktur zu nutzen, eine funktionierende Müllabfuhr zu haben, saubere Straßen, einen öffentlich geförderten Kultursektor, der bitteschön auch die Werke seiner Künstler auszustellen hat. Aber dafür bezahlen? Steuern bezahlen? Sich beteiligen? Wo kämen wir denn da hin? Das sollen bitte die armen Leute tun. In seiner Weltsicht tat Javier schon genug für die Allgemeinheit. Er hielt die Kunstgeschichte am Laufen. Da konnte er sich nicht auch noch finanziell beteiligen.

 

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