Javier kannte das Gefühl der Zuneigung nicht. Freundschaft und Liebe blieben ihm fremde, verschlossene Welten. Seine ersten und frühesten Erinnerungen bestanden ausschließlich darin, dass Menschen sich gegenseitig zum eigenen Vorteil benutzten. Vor allem aber ihn benutzten. Die Liebhaber seiner Mutter benutzten ihn, seine Mutter benutzte ihn ebenso, um ihre Liebhaber gefügig und bei der Stange zu halten. Seine Großmutter stellte den kleinen Javier mit Medikamenten still, weil sie menschliche Nähe nicht ertragen konnte. Ihr Bedürfnis nach Ruhe war ihr Grund genug, Javier den Weg in die Sucht zu weisen.
Von Zeit zu Zeit wurde sein Vater auf Javier aufmerksam, zwang ihn dann zu Kirchgang und Gebet. Er tat das nicht, um Javier zu einem guten Christen zu erziehen. Er tat das, weil sein eigenes Seelenheil davon abhing. Sein postmortaler Weg in die Nähe Gottes hing für Javiers Vater von der Häufigkeit von Javiers Kirchenbesuchen ab. Auch für seinen Vater war Javier nur Mittel zum Zweck, entsprechend barsch setzte er sei vermeintlich erzieherisches Ziel beim oft widerspenstigen Javier um. Den Priester störten die blauen Flecken nicht, die Javier sichtbar an Armen und Beinen und unsichtbar unter seiner Kleidung hatte. Er kniff Javier in die Wange, wobei er ihn anwies, Dankbarkeit gegenüber seinem Vater zu zeigen, da dieser ein so guter Christ sei und im Gegensatz zu Javier bestimmt in den Himmel käme.
Javier hatte schon ganz früh verstanden, Menschen waren nicht dazu da, sich gegenseitig zu helfen, sie waren dazu da, sich gegenseitig auszunutzen.
Entsprechend verfuhr Javier heute mit den Menschen in seiner Umgebung. Gelegentlich wunderte er sich, wenn sie sich rüde gegen seine Behandlung zur Wehr setzten, weil sie sich benutzt fühlten. Für Javier gab es jedoch gar keine andere Möglichkeit des Umgangs, denn er kannte nur diesen einen. Menschen waren zu manipulieren und zu benutzen. Wozu sonst? Er selbst schützte sich, indem er mit Geld um sich warf. Jeder in seinem Umfeld wurde überhäuft mit teurem Kram, teurem Essen, horrenden Boni, exorbitanten Trinkgeldern. Javier kaufte sich gleichsam frei von der Benutzung und der Manipulation. Er glaubte, er erhalte dadurch Achtung und Anerkennung. Dass er sich viel häufiger Verachtung erkaufte, hätte ihn verwundert, denn er verstand die Komplexität menschlicher Emotionen nicht. Für ihn war klar, gibt er Geld, dann bekommt er als zu handelnde Ware Anerkennung und Respekt zurück. Dass ihn die Mehrheit seiner Kontakte für einen kleinen neureichen Popanz hielt, hätte Javier niemals verstanden.
Allerdings war er zu einem anderen Verhalten gar nicht in der Lagen, denn er hatte keinen anderen Umgang gelernt, war auch nicht daran interessiert ihn zu erlernen, denn er fühlte sich in seiner erkauften Isolation sicher.
In diesem Moment fühlte er sich durch eine Email von Daniel Mersiowsky herausgefordert. Javier hatte Daniel vorgeschlagen, jetzt, da seine Karriere so rasante Fortschritte machte, er möge auch seinen Lebensmittelpunkt verlegen. Javier hatte ihm geraten, sich einen seinem Stand als einer der angesagtesten Newcomer in der internationalen Kunstszene entsprechenden Ort zu suchen und sich ein Studio in New York zuzulegen.
Daniel war von der Idee nur mäßig angetan. Er fühlte sich in Frankfurt beheimatet, war dort zur Schule gegangen, seine Familie wohnte dort. Er hatte an der Frankfurter Städelschule Kunst studiert, hatte in Frankfurt seine Freunde und seine Freundin. Er mochte die Stadt und wäre nie auf die Idee gekommen, aus Gründen seiner Karriere dort wegzuziehen. Im Gegensatz zu Javier war Daniel ein durch und durch sozialer Charakter. Er hatte einen großen Freundeskreis, den er pflegte, da er ihm wichtig war. Daniel hatte Wurzeln. Sein Erfolg stieg ihm nicht zu Kopf, denn er blieb ihm selbst ein Rätsel. Zwar glaubte er an seine Malerei. Was ihn aber erstaunte war die immense Wertsteigerung, das viele Geld, das seine beinahe monochromen Gemälde erzielten. Sie waren groß und weiß, hatten beim genauen Hinsehen Struktur, hier und da ein verschwindend kleines Quäntchen blau und grau eingearbeitet. Er arbeite gern als Künstler, liebte die Stille seines Ateliers ebenso, wie er es genoss, nach der Stille im Kreis seiner Freunde das ein oder andere Bier zu trinken und zu erzählen.
In seiner Email an Javier schrieb er, seine Freunde fänden die Idee, er würde aus Frankfurt nach New York ziehen nicht so gut. Überhaupt fänden sie, ginge alles ein wenig schnell. Er wolle daher lieber noch abwarten.
Javier fühlte Wut aufsteigen. Was mischten sich diese ungehobelten Frankfurter Idioten in seine Pläne für Daniel ein. Das ging sie doch gar nichts an. Die waren nur neidisch, wie erfolgreich er Daniel in so kurzer Zeit gemacht hatte. Jetzt wollten sie ihm Daniel abspenstig machen, wollten ihn am Boden halten, ihn in Frankfurt vergammeln lassen, während er Daniel die New Yorker Kunstszene bieten würde. Javier glaubte an das, was er dachte. Er schrieb eine Email zurück, die mit “Hey Kumpel, überleg doch mal, wie geil es wäre …” begann. Javier hatte gelernt, den Ton der Freundschaft zu imitieren, auch wenn er sie nicht empfinden konnte.
Hätte Javier sich ein bisschen besser gekannt, wüsste er, wie berechtigt die Zweifel waren, die nicht nur Daniels Freunde, sondern auch Daniel selbst hatte. Javier schöpfte eine tiefe Befriedigung daraus, wenn Menschen für ihn von einem Ort zum anderen zogen. Je weiter desto besser. All seine Angestellten sind ebenso für ihn umgezogen, wie viele seiner Künstler. Javier emfpand dies als Wertschätzung ihm gegenüber. War diese Wertschätzung allerdings einmal erbracht, verlor er auch zügig das Interesse.