In einem Blog, dem ich recht aufmerksam folge und dessen Diskussionsbeiträge ich schätze, erschien vor einigen Tagen ein Aufsatz, der zwischen der materiellen Welt einerseits und der virtuellen andererseits eine Front eröffnet, an der ein Kampf tobt. Der Autor Gerhard Mersmann unterteilt hierbei in eine aktive Welt außerhalb des Netzes und eine bloß kommentierende, passiv-moralische Welt der Blogs. Die letztere schriebe der anderen das Attribut des Bösen zu, wodurch sie sich im Rückschluss als das Gute sehe.
Es ist die Tatsache, dass alle, die in irgend einer Form aktiv sind und gestalten die eigentlichen Bösewichter auf dieser Welt zu sein scheinen, während die stratosphärischen Interpretatoren und Kommentatoren nicht nur frei von jeder Verantwortung, sondern auch gar nicht Teil der wirklichen Welt zu sein scheinen. Das Netz, so muss konsequent formuliert werden, ist die Gebärmutter des menschlichen Objektes, das zwar die Welt noch beobachtet und eine Meinung von ihr und über sie hat, aber selbst weder gewillt noch fähig ist, in das Geschehen selbst einzugreifen. Diejenigen, die das tun, die tatsächlichen Subjekte, sind die Inkarnation allen Übels und somit Zielscheibe der Aktivitäten im Netz.
Ich gebe zu, ich fühlte mich getroffen, denn ich zähle mich mit dem, was ich hier tue, zur Blogospähre, denke aber, dass ich weit mehr tue als aktiv Handelnde aus der bequemen Perspektive meines Wohnzimmers heraus zu bekritteln, dass ich mehr tue als Welt bloß moralisch zu kommentieren, mehr tue als Menschen, die Verantwortung tragen, mit Missgunst zu überhäufen. Etwas störte an der Argumentation. Ich begann also, mich auf die Suche nach der Störung zu machen. Ich begann zu schreiben. Und dabei fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
Schreiben ist mehr als nur passive Besserwisserei, denn Schreiben selbst ist Aktivität, Handlung.
Ich trage Verantwortung für das, was ich hier von mir gebe, nicht nur moralisch, sondern tatsächlich auch im rechtlichen Sinne. Ich trage zusammen, recherchiere, setze mich auseinander und komme oft zu anderen Ergebnissen als die etablierten Medien und die Politik einer immer weiter verdichteten Mitte.
Ich tue das mit den Mitteln, die das Netz mir zur Verfügung stellt. Und ich schreibe mit großer Redlichkeit vor mir selbst. Ich tue es nicht für Geld, nicht, um Karriere zu machen, nicht, um Ansehen zu gewinnen. Der Motor meines Blogs ist ein anderer. Er ist, ich schreibe das hier in aller Emphase, das Bemühen des Auszugs aus meiner eigenen Unmündigkeit. Mein Blog ist das Zeugnis des Mutes, dass ich mich meines eigenen Verstandes bediene. Und er ist gleichzeitig die Einladung an alle, es ebenso zu tun. Mein Blog ist der Aufklärung verpflichtet, wie ich mich selbst der Aufklärung verpflichtet fühle.
Das Netz ist nicht das Gegenteil eines echten Dialogs, wie Gerhard Mersmann behauptet. Es ist ein echter Dialog, denn bestimmte Umgangsformen, die außerhalb des Netzes einen Dialog viel zu häufig verhindern, sind hier nicht möglich. Man kann nicht unvermittelt ins Wort fallen, man kann nicht niederbrüllen, man kann nicht einfach irgendwelche Scheinargumente vortragen, denn alles lässt sich unmittelbar überprüfen. Und man muss es ertragen, dass ein Gedanke zu Ende geführt wird.
Und noch etwas stört in der Argumentation. Es ist gerade ein Zeichen unserer Zeit, dass die Handelnden eben nicht mehr die Verantwortung für ihre Handlungen tragen. Man kann Krisen und Kriege auslösen, ohne dafür jemals zur Verantwortung gezogen zu werden. Man kann mit Lügen Menschen in den Tod schicken und riesige Regionen destabilisieren, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Man kann Schuld und Schulden abwälzen auf Staaten und ihre Bewohner und sich mit ganz zweifelhafter Argumentation hinüberretten in einen obszönen Reichtum. Das ist das Gegenteil davon, für seine Handlungen Verantwortung zu übernehmen.
Man kann politische Strategien verfolgen, die über Jahre hinweg scheitern und immer weiter scheitern, wie die Versuche zur angeblichen Rettung des Euro zeigen. Man kann im Scheitern, im Anhängen an eine Ideologie Menschen ins Elend schicken, ohne dass die dafür Verantwortlichen zur Verantwortung gezogen würden oder auch nur gezwungen werden könnten, über eine Kurskorrektur nachdenken zu müssen.
Verantwortungslosigkeit der Handelnden ist das Elend unserer Zeit, nicht dass es manchen Texten in manchen Blogs nicht gelingt, das Ganze ins Auge zu nehmen und sie sich in Einseitigkeit verlieren. Wir leben ohnehin in sehr einseitigen Zeiten.
Das Netz ermöglicht, dieses Elend der Zeit zu thematisieren und sich darüber auszutauschen, sich, das liegt in der Natur des Netzes, mit anderen thematisch zu vernetzen. Das ist kein Manko, keine Bequemlichkeit und kein dummes Kommentieren aus einer sicheren Perspektive. Es ist die große Chance den Gedanken der Aufklärung immer weiter voranzutreiben und Wirklichkeit werden zu lassen, bevor die politisch Handelnden den Gedanken der Aufklärung völlig preis geben. Denn das ist die große Gefahr der Zeit.