Es ist lange her, seit ich den letzten Beitrag der als Fortsetzungserzählung geplanten Geschichte über Javier hier eingestellt habe. Das liegt nicht daran, dass ich mein erzählerisches Interesse an der Figur des drogensüchtigen Galeristen Javiers verloren hätte. Im Gegenteil. Javier ist immer bei mir. Es haben sich jedoch andere Themen immer wieder in den Vordergrund gedrängt, die ebenfalls Aufmerksamkeit haben wollten.
Dabei haben nahezu alle Beiträge, die ich hier auf meinem Blog einstelle, so sehr sie sich auf den ersten Blick auch von der Erzählung über Javier unterscheiden mögen, einen gemeinsamen Kern. Bis auf meine Beiträge zum russischen Pop, die ich mir gleichsam als Entspannung gönne, kreist alles um die ökonomische Schieflage, die sich in den letzten Jahrzehnten in der Weltregion breit gemacht hat, die man den Westen nennt. Über diese Schieflage schreibe ich. Vor allem über die sich daraus ergebenden Konsequenzen, von denen die Medienkrise, die Kriege, die wir meinen führen zu müssen, unser immer weiter sinkender Lebensstandard, der Werteverfall, die Instabilität der Welt, wie wir sie heute erleben, zentrale Symptome sind.
Die Ausrichtung auf eine einzige ökonomische Ideologie und ihr Durchpeitschen gegen alle Vernunft und Interessen der Bürger in der westlichen Hemisphäre, soziale Ausgrenzung, die Rückkehr von Hunger nach Europa, gesellschaftliche Verwerfungen bis hin zu Bürgerkriegen, sinken der Lebenserwartung und ein beständiges Absinken des Lebensstandards für den Großteil von uns sind die Begleiterscheinungen dieses Irrsinns, der alle Bereiche der Gesellschaft erfasst hat.
Auch Javier wurde von dieser Neuausrichtung wie der Rest der Menschheit getroffen, gehört allerdings materiell zu den Gewinnern dieser Entwicklung.
Es war eine winzige Änderung der Steuergesetzgebung unter dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan, die Javiers ökonomischen Höhenflug veranlasst hatte. Ronald Reagan hatte ganz dem Dogma der Neoklassik, dem er ebenso angehörte wie damals Margret Thatcher in deren Tradition heute Angela Merkel, Sigmar Gabriel, Wolfgang Schäuble und eben auch die nicht sehr Alternative Frauke Petry wie auch unzählige weitere Protagonisten der deutschen und internationalen Politik stehen, damals also hatte Ronald Reagan die Steuern für Reiche massiv gesenkt und die Steuer auf Verkäufe von Kunstwerken einfach ganz gestrichen, wenn von den Einnahmen aus den Veräußerungen wieder neue Kunstwerke gekauft werden. Aus Kunst wurde Spekulation.
Genau das ist die Grundlage für Javiers wirtschaftlichen Erfolg. Javier hat weder ein besonderes Auge, noch verfügt er über einen exklusiven Zugang zum Begriff der Kunst. Er ist einfach, ganz instinktiv auf einen fahrenden Zug aufgesprungen, hat erkannt, dass die immensen Wertsteigerungen im Bereich der zeitgenössischen Kunst wenig mit dem Inhalt, aber alles mit der Form zu tun haben. Mit dem gesellschaftlichen Rahmen, in dem diese Gewinne ermöglicht werden.
Javier selbst hat einen völlig gewöhnlichen Geschmack und auch kein besonders geschultes Auge für Ästhetik. Hermeneutik und Reflexion ist ihm zuwider. Er findet die Vorstellung, ein Werk der Kunst könnte mehre Ebenen haben, die sich nach und nach erschließen und sich gegenseitig ergänzen eher beängstigend als faszinierend. Er liebt die glatte Oberfläche.
Javier steht für eine Idee von Kunst, der jedes Künstlerische geraubt und die zum bloßen Spekulationsobjekt degradiert wurde. Kunst ist das, was sich handeln lässt, so stellt es sich für Javier, seine Kollegen und das Heer der Sammler dar, die diese Umtriebe befeuern.
Der Kunstmarkt, den Javier selbst im größten Suff und mit Unmengen weißen Pulvers in der Nase so wunderbar zu manipulieren weiß, ist ein völlig ungeregelter Markt, auf dem er und andere es verstehen, beständig Blasen zu erzeugen, die Javier dann für seine guten Kunden halbwegs kontrolliert zum Platzen bringt. Einsteigen, Wertsteigerung beobachten, rechtzeitig aussteigen, weiterziehen, sich nach Möglichkeit ein bisschen auf Kunstevents als Förderer der Kunst feiern lassen. In seiner Fetischstruktur ein gänzlich absurdes Spektakel, das sich den Teilnehmern, das ist der Charakter des Fetisch‘, in keiner Weise erschließt.
Jenseits der Inszenierung und des Fetisch ist er Kunstmarkt für zeitgenössisches Kunst eine gigantische Umverteilungsmaschine, die Geld von unten nach oben schaufelt und die Teil einer noch viel größeren Umverteilungsmaschine mit dem selben Zweck ist, die sich Finanzmarkt nennt.
Öffentliche Sammlungen, staatliche Galerien, der öffentliche Sektor sind aus diesem Geschäft längst ausgestiegen. Sie sind dank der Steuersenkungspolitik, der in einer logischen Gegenbewegung zu dem gigantischen Reichtum geführt hat, der die Preise für Kunst in die Höhe trieb, gar nicht mehr in der Lage, die exorbitanten Preise zu bezahlen, die Trader wie Javier zu erzeugen wissen. Private Spekulanten, die sich in den Feuilletons immer noch Sammler nennen lassen, sind es, die hier das Spiel bestimmen.
In meinem Freundeskreis musste ich versprechen, die Geschichte von Javier weiter zu erzählen. Sie sei relevant, werfe ein Licht auf den Zustand unserer Gesellschaft und lasse ihre Bruchstellen deutlich aufscheinen.
Ich weiß nicht, ob das stimmt, dennoch ist es mir ebenfalls wichtig, Javier nicht aus den Augen zu verlieren, nicht nur, weil er als Akteur das Treiben des Kunstmarktes beleuchtet. Mein Interesse an Javier ist zudem soziologischer und psychologischer Natur. Hier ist Javier gerade in seiner phänotypischen Einzigartigkeit in der dieser Einzigartigkeit zugrunde liegenden Struktur von unglaublicher Gewöhnlichkeit.
Bei allem wirtschaftlichem Erfolg fehlen Javier zahlreiche Eigenschaften, die ihm diese Erfolg mit Sinn erfüllen könnten, wobei er diesen Mangel dringend benötigt, um wirtschaftlich erfolgreich sein zu können.
Javier fehlt unter anderem gänzlich die Fähigkeit, Glück zu empfinden. Und es fehlt ihm daher auch die Möglichkeit zur Ruhe zu kommen. Um weitere Aspekte herauszuarbeiten, dafür schreibe ich diese Geschichte.
Aber diese paradoxe Struktur macht ihn vielleicht gerade so typisch für unsere Zeit. Ein tragikomischer Protagonist, der nie gelernt hat, zu leben. Materiell steht ihm alles zur Verfügung, doch er kann es weder für sich und schon gar nicht für zum Guten nutzen.
Meine Figur Javier ist spätestens seit seinem 13. Lebensjahr abhängig und von seiner Abhängigkeit getrieben. Wie das so ist beim Gebrauch psychotroper Substanzen, ist die persönliche Reifung mit dem Einsetzen exzessiven Gebrauchs abgeschlossen. Das Belohnungssystem, das wir zum sozialen Lernen brauchen, ist außer Kraft gesetzt. Entsprechend ist Javier auf dem Stand eines 13-jährigen stehen geblieben und passt damit wunderbar in die Subkultur des Kunstmarktes, des Tradens und der Spekulation.
Dass Javier mit dieser Disposition wunderbar ergänzend in die Mechanik eines sich völlig entgrenzten Marktes passt, ist einer genaueren Analyse Wert. Was passiert, wenn Gier Gier befeuert, ist eine der Fragen, die diese Erzählung treibt.
Aber noch ein Drittes ist von Interesse, die Kunst nämlich. Was passiert, wenn Kunst ihres Charakters als soziale Praxis beraubt wird? Zugespitzt lässt sich fragen, was passiert, wenn aus Kunst als sozialer Praxis eine asoziale Praxis gemacht wird? Wie wirkt das auf sie und ihr Umfeld zurück.
Ich lade alle meine Leser ein, am Entstehen der Erzählung über Javier teilzunehmen. Unter “Lange Texte” findet sich “Javier. Eine Psychogrammatik”, wo die bisherigen Kapitel in ihrer Rohversion vorliegen.
Es würde mich nicht nur freuen, wenn ich Leser zur Teilnahme an diesem Experiment eines öffentlich entstehenden Romans bewegen könnte. Es ist gerade diese Form sozialer Kontrolle und Vernetzung die wir brauchen, um uns wechselseitig zu ergänzen und zu unterstützen. Genau dem entzieht sich Javier und eine ins Neoliberale gewendete Gesellschaft befördert diesen Entzug und diesen Rückzug aus Gemeinschaft immer weiter.
„Zugespitzt lässt sich fragen, was passiert, wenn aus Kunst als sozialer Praxis eine asoziale Praxis gemacht wird?“
Plakativ könnte man antworten: ‚Dann paßt das entstandene Produkt zu den – dann – quantifizierbar gewordenen Gefühlen und somit zu der neoliberalen Praxis der Profitmaximierung.‘
Dann aber, noch von Gefühle oder Kunst zu sprechen, waere fatal. Allerdings kaeme – dann – niemand mehr auf die Idee, solche – dann – unmodern gewordene Begriffe anzusprechen.
Ich bin uebrigens der Ueberzeugung, dass es nie zu einem solchen totalen Aussterben des Menschlichen kommen kann.