Immer wenn ich Lust und zudem ein bisschen Zeit zur Verfügung habe, lasse ich mich auf einen Dialog mit einer Person ein, die sich auf Google + Dr. Hydro nennt. Ob Dr. Hydro im realen Leben auch einen Doktortitel hat, ob er ein Mann oder eine Frau ist, weiß ich alles nicht zu sagen, denn Dr. Hydro hält sich mit Informationen über sich sehr zurück. Dafür weiß er – ich werde im Folgenden der Einfachheit halber Dr. Hydro mit den maskulinen Formen unserer Grammatik bezeichnen- dafür weiß er, meine Informationen immer zügig einzuordnen: Alles russische Propaganda. So wenig ich über Dr. Hydro weiß, so sicher kann ich sagen, dass Dr. Hydro in seiner unkritischen Medienrezeption eine ganz bestimmte deutsche Schicht repräsentiert. Irgendwann mal auf einer Hochschule gewesen, ganz gutes Einkommen, sich völlig sicher, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben. Allerdings nur die deutschen, denn selbstverständlich spricht Dr. Hydro weder Russisch und war auch noch nie im Land. Aber er weiß natürlich ganz genau was da abgeht, denn: Das steht doch in der Zeit und der Süddeutschen. Deswegen hat er doch das Abo, um über sowas informiert zu sein.
Dr. Hydro repräsentiert damit die zum Glück kleiner werdende Gruppe von Menschen, die die aktuelle Medienkrise nicht zur Kenntnis nehmen wollen und meinen, wenn sie eins der selbst ernannten Qualitätsmedien aufschlagen, könnten sie ihren kritischen Verstand ausschalten.
Dass glauben inzwischen immer weniger Menschen, denn sie fühlen weder sich, noch ihre Bedürfnisse, Ängste, und so weiter uns so fort in den Mainstream-Medien repräsentiert. Auch halten die Schilderungen des Mainstreams oftmals nicht den einfachsten Plausibiliätsprüfungen stand.
So las ich heute in der Zeit ein Interview mit Olga Romanowa, die aus Russland nach Deutschland migrierte. Wegen der anstehenden Präsidentenwahl, versteht sich. Die Geschichte, die sie erzählt, weist große Lücken auf und erinnert mich stark an meinen beruflichen Alltag in der Sozialpsychiatrie. Ich kenne solche Geschichten wie „Ich habe überhaupt nichts gemacht. Auf einmal kamen zwei Bullen und haben mich auf den Boden geworfen und mir den Arm verdreht.“ in und auswendig. Ich komme sozusagen täglich in den Genuss.
So eine Geschichte müsste mal als Beispiel für Menschenrechtsverletzungen und brutalster deutscher Polizeigewalt in einer russischen Gazette abgedruckt werden. Es würde mich interessieren, was dann hier passiert.
Fragt man dann etwas genauer nach, dann stellt sich schnell heraus, das jenes arme Opfer brutalster Gewalt beim Bezahlen seiner drei Bierflaschen morgens um zehn vergessen hatte, die Flasche Wodka, die er in der Jackentasche hatte, mit aufs Band zu legen, woraufhin er zur Feststellung der Personalien ins Büro des Marktes gebracht wurde. Schließlich war es nicht das erste Mal. Dort hat er eine riesige Schreierei veranstaltet, die Polizei wurde hinzugerufen. Die Schreierei nahm noch an Intensität zu, der Kopierer wurde beschädigt, die Beamten kräftig beleidigt und schließlich lag er irgendwann auf dem Boden.
Entsprechend lese ich Schilderungen wie die von Olga Romanowa kritisch. Auch sie will nichts gemacht haben außer Journalismus, seriöser Regierungskritik und ein bisschen NGO-Engagement, und – schwupp – stand plötzlich die Polizei und die Steuerfahndung in der Tür ihrer Moskauer Wohnung.
Eigentlich müsste man jetzt anfangen ein bisschen nachzufragen. Dass das der Mainstream, im diesem Fall ‚Die Zeit‘ tunlichst unterlässt, weckt in mir den Verdacht der Parteilichkeit und der Einseitigkeit. Zum Glück hatte Olga Romanova viel Unterstützung von der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung und der Deutschen Welle. Das hat meine Skepsis gegenüber der von ihr erzählten Geschichte allerdings nicht gerade minimiert.
Dr. Hydro ist noch nicht so weit, eventuell kommt er nie dahin, denn es stiftet auch ein wohliges Gefühl, alles besser zu wissen nach so einer kleinen Zeitungslektüre. Das ist wie ein Stückchen Heimat, das man nicht so gerne aufgibt. Sicherheit. Verlässliches Terrain. Wenn es in der Zeit steht, dann ist da so. Das Hirn bleibt ausgeschaltet. Dann machen Polizisten in Ländern wie Russland einfach völlig unglaubliche Dinge. Und wenn man ihn dann darauf verweist, dass die ein oder andere Geschichte in russischen Medien etwas anders steht, dann präsentiert er einen Link zur deutschen Wikipedia, in der mit Quellenangabe steht, warum in Russland alles scheiße ist. Die Quellen erweisen sich als Zeit und Süddeutsche.
Dessen ungeachtet schätze ich die Auseinanderstezungen mit Frau Dr. Hydro, um es mal etwas anders zu gendern, denn in diesen Auseinandersetzungen zeigt sich der Umfang der deutschen Propagandaglocke. Und der ist tatsächlich enorm. Nicht nur zum Thema Russland, sondern zu allen großen Themen, sei es Makroökonomie, EU und Geopolitik.
Wunderbar, dieser Beitrag, Herr Ungar – wie auch die bisherigen Ihrer aktuellen Reihe, kann kaum aufhören zu schmunzeln. Da ich aus privat-familiären Gründen rechnerisch bis zu 5 Monaten im Jahr in Moskau verbringe, kann ich Ihre Beobachtungen & Einschätzungen „zur Lage“ zu 99,9% teilen…0,01% für die Moskowiter Streifenpolizisten, bei denen ich nicht sicher bin, ob sie nicht doch Schusswaffen tragen…(bei der Verkehrspolizei, meine ich, ist dem so). Ab dem 24. werde ich vor Ort verstärkt `drauf achten ;-).