Die Dialektik des Liberalismus

Für eine historische Millisekunde sah es tatsächlich wie das Ende der Geschichte aus. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren die Gegensätze hinfällig, die die Welt bisher gespalten hatten.

Die Welt, so suggerierte dieser historische Moment, würde sich fortan in Frieden jenseits globaler Konflikte weiterentwickeln. Das war der Traum der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Weltweiter Handel, verbunden mit dem Abbau von Handelsgrenzen und Beschränkungen, würde zu einem unermesslichen Reichtum führen, von dem alle profitieren würden. Armut würde der Vergangenheit angehören, der Wohlstand würde auf alle herabregnen – auf manche mehr, auf andere weniger, doch ganz ausgelassen würde keiner.
Für einige Länder, vor allem die ehemaligen sozialistischen Staaten, war lediglich noch …

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4 Kommentare zu „Die Dialektik des Liberalismus

  1. Eine treffende Zusammenfassung der aktuellen Situation.
    Nur würde mich mal die Quelle für die Abnahme der Lebenserwartung in der BRD interessieren. Oder ist mit “bei uns” nicht die BRD gemeint?

  2. Sehr schön. Das mit dem Rechtsruck der westlichen Regierungen wollte ich auch schon
    unter die Leute bringen. Man kann sich dabei auf das Buch von Naomi Klein
    „Die Schockstrategie“ berufen. Es ist alles belegt und aktenkundig. Da muss man nicht
    spekulieren oder fabulieren. Alles definitiv schwarz auf weiß nachlesbar, in Beispielen
    aus den letzten 50 Jahren. Gerichtsfest übrigens.
    Die plötzliche Auflösung der Sowjetunion durch Jelzin und die darauf folgenden Ereignisse führten gleich zu mehreren traumatischen Schocks für die Bevölkerungen der SU-Nachfolgestaaten Anfang der 1990er Jahre. Jelzin regierte ab Dezember 1991 mit Sondervollmachten per Dekret am Parlament vorbei. Um das zentralistische Wirtschaftssystem aufzubrechen, wurden ökonomische Schocks verabreicht. Dazu finanzierte und entsandte die US-Regierung eigene Experten. Deren Aufgaben bestanden darin Erlasse und Anordnungen zur Privatisierung der 225 000 Staatsbetriebe zu verfassen (zu Gunsten einer kleinen Minderheit), eine Aktienbörse nach dem Vorbild USA aufzubauen, einen russischen Markt für Investmentfonds und Direktinvestitionen aufzubauen, den Freihandel einzuführen und die Preiskontrollen aufzuheben. Die Ergebnisse waren eine Katastrophe: ein Drittel der Bevölkerung rutschte unter die Armutsgrenze, Millionen Arbeiter bekamen monatelang keinen Lohn,…
    Im Dezember 1992 wurde Premierminister Jegor Gaidar abgewählt, im März 1993 entzog das Parlament Jelzin die Sonderbefugnisse wieder. Jelzin rief sofort den Notstand aus. Drei Tage später entschied das Verfassungsgericht dagegen. Nun befand sich die kapitalistische Schocktherapie in direkter Konfrontation zum Parlament und zur Verfassung. Westliche Politiker und Medien stellten sich hinter Jelzin und die Chicago Boys. Das Parlament legte einen Haushaltsentwurf vor, der nicht den IWF-Forderungen genügte. Jelzin versuchte daraufhin per Volksentscheid das Parlament aufzulösen. Der IWF stoppte die Auszahlung von 1,5 Mrd. Dollar. Intensiver Druck aus Washington. Jelzin erließ PER DEKRET(!) die Aussetzung der Verfassung und die Auflösung des Parlamentes. Zwei Tage später entschieden die Abgeordneten des Parlaments mit 636 zu 2 Stimmen die Amtsenthebung des Präsidenten. Vizepräsident Rutzkoi erklärte, Russland hätte bereits einen hohen Preis für das politische Abenteurertum von Jelzin und den Reformern bezahlt.
    Aber Clinton stärkte Jelzin den Rücken „und der US-Kongress bewilligte Jelzin 2,5 Mrd. Dollar Hilfsgelder. Jelzin, der wieder Mut geschöpft hatte, ließ das Parlament von Truppen umstellen und wies die städtischen Energieversorger an, Strom und Fernwärme abzustellen sowie die Telefonanschlüsse stillzulegen. Boris Kagarlitzky erzählte mir, dass Demokratieanhänger zu Tausenden herbeikamen und versuchten, die Blockade zu durchbrechen. Im Angesichts der Truppen und Polizeikräfte wurde zwei Wochen friedlich demonstriert, was dazu führte, dass die Blockade des Parlaments teilweise gelockert wurde, sodass Leute Lebensmittel und Wasser hineinbringen konnten. Von Tag zu Tag wurde der gewaltlose Widerstand populärer und gewann immer breitere Unterstützung.“
    Jelzin aber brach die Verhandlungen ab und ließ niemanden mehr passieren. Am 3. Oktober 1993 wollten Demonstranten zum Fernsehzentrum Ostankino, wurden jedoch mit Gewalt aufgehalten, rund 100 Menschen starben. Am nächsten Tag, den 4. Oktober, setzte Jelzin Tausende Soldaten dutzende Panzer, Hubschrauber und Elitetruppen in Marsch, um das Parlament zu stürmen und in Brand zu setzen. „Am Ende des Tages hatte der militärische Rundumschlag annähernd 500 Menschen das Leben gekostet, fast 1000 wurden verwundet.“

    Nach dem Putsch vom 4. Oktober 1993 wurden alle Stadt-und Regionalräte aufgelöst. Das Verfassungsgericht wie die Verfassung selbst außer Kraft gesetzt. Ausgangsperre verhängt und Presse zensiert. „Was taten die Chicago Boys und ihre westlichen Berater [viele davon auf den Gehaltslisten diverser US-Nachrichtendienste] in diesem entscheidenden Moment? Dasselbe wie im schwelenden Santiago de Chile 1973 und wie später im brennenden Bagdad: Befreit von den Einmischungen der Demokratie veranstalteten sie eine Gesetzgebungsorgie. … Während das Land noch unter dem Schlag taumelte, peitschten Jelzins Chicago Boys [u.a. der berüchtigte Anatolij Tschubais] die strittigsten Maßnahmen ihres Programms durch: riesige Etatkürzungen, Aufhebung aller Preiskontrollen für Grundnahrungsmittel, noch mehr und schnellere Privatisierungen-die Standardpolitik, die auf der Stelle so viel Elend bringt, dass man anscheinend einen Polizeistaat braucht, um einen Aufstand zu verhindern. … Der Wandel vollzog sich so rasch, dass die Russen unmöglich auf dem Laufenden bleiben konnten. Oft wussten die Arbeiter nicht einmal, dass ihre Fabriken und Bergwerke verkauft worden waren-ganz zu schweigen davon, zu welchen Bedingungen und an wen.“

    Die Wahl 1996 gewann Jelzin nur dank massiver Manipulationen im Vorfeld und durch mutmaßliche Wahlfälschung. Die genauen Hintergründe können hier nicht im Detail dargestellt werden, sie warten noch auf ihre Offenlegung. Wie schon in der Ukraine unter Kutschma, wurden nach der „Wahl“ auch die strategischen Positionen des russischen Staates verhökert. Öl, Gas, Nickelproduktion, Waffenfabriken und Elektronik. Heute fragt man sich, wie war das überhaupt möglich?
    „Der Skandal bestand nicht nur darin, dass Russland staatliche Aktivposten für einen Bruchteil ihres Wertes verschleudert wurden-in echt korporatistischem Stil wurden sie auch noch mit öffentlichen Geldern gekauft. Frech taten sich die Politiker, die Staatsfirmen verkauften, und die Unternehmer, die sie erwarben, zusammen, und mehrere von Jelzins Ministern, unter anderem Jegor Gaidar, transferierten große Summen öffentlicher Gelder, die an die Nationalbank oder an den Staatshaushalt hätten gehen müssen, auf Privatbanken, die hastig von Oligarchen gegründet worden waren. Die beiden wichtigsten Oligarchen-Banken waren Michail Chodorkowskis Bank Menatep und Wladimir Potanins Uneximbank. Dann beauftragte der Staat dieselben Banken mit den Privatisierungsauktionen der Ölfelder und Bergwerke. Die Banken organisierten die Versteigerungen, boten dabei auch selbst mit-und natürlich beschlossen die Oligarchen gehörenden Banken, sich selbst zu den stolzen neuen Eigentümern der zuvor dem Staat gehörenden Aktivposten zu machen.
    Das Geld, mit dem sie die Anteile an diesen öffentlichen Unternehmen kauften, waren mit hoher Wahrscheinlichkeit dieselben öffentlichen Mittel, die Jelzins Minister zuvor bei ihnen deponiert hatten. Anders ausgedrückt: Das russische Volk gab das Geld für die Ausbeutung des eigenen Landes“
    Das dürften Gründe genug sein, um das heutige Oligarchensystem an und für sich in Frage zu stellen.
    Das sind auch die Ursachen des sozialen Widerstandes in der Ukraine. Das wissen die herrschenden Mächte in Kiev, Washington und Berlin. Und durch eine Angliederung an EU und Nato erhoffen sich die Oligarchen und Nutznießer der Plünderungsökonomie in der Ukraine eine Fortschreibung und Sicherstellung des status quo, ad infinitum.
    (alle Zitate aus: Naomi Klein: Die Schockstrategie, S. 312 ff.)

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