Fin de siècle 14

Innerhalb von kurzer Zeit war ich nun das zweite Mal ziemlich angepisst. Es war dringend an der Zeit, Sebastian an meinem Gefühlsleben teilhaben zu lassen. Ich zischelte ihm mein Befinden ins Ohr und erwartete Widerspruch. Zu meiner Überraschung blieb der aus. Im Gegenteil bekam ich Unterstützung. Sebastian fand das eben pfaffenseitig Geäußerte über alle Maßen peinlich, wie er mir versicherte. Mein individuelles Erleben ging im Gemeinschaftlichen auf, das Ich trat zugunsten eines Wir zurück, das zwar aus nur zwei Personen bestand. Dennoch wirkte es auf mich, als würde der Fluss meiner Empfindung nun in ein breiteres Bett strömen und käme so zur Ruhe. Durch diese Entlastung war es plötzlich möglich, die Worte Sams vorbei ziehen zu lassen, ohne ihnen Aufmerksamkeit schenken zu müssen, und ich konnte so die klerikalen Rhetorikfolter mit einiger Gelassenheit sich ihrem Ende nähern lassen. Insgesamt war ich inzwischen deutlich milder gestimmt und daher auch wieder in der Lage, die Schönheit der uns umgebenden Landschaft wahrzunehmen. Sams Pfaffengeseier trat in den Hintergrund.
Wenige Augenblicke später setzte Sam endlich einen Schlusspunkt unter seine religiös-ideologischen Ausführungen. Die Trauung war vollzogen, das Zusammensein von Andrew und Susan nun auch göttlicherseits legitimiert. Die eben noch durch die Sitzreihen geordnete Hochzeitgesellschaft brachte sich in einen lockereren Zusammenhang, dem Paar wurde gratuliert, Fotos wurden gemacht, allgemeines Händeschütteln und Umarmen. Sebastian und ich suchten im Schatten einer Pinie Schutz vor der Sonne. Es war auch der Moment, in dem wir uns über das eben Gehörte austauschten und feststellten, dass unsere Haltung gegenüber Religionen, die uns in diesem Moment alle gleichermaßen fundamentalistisch und verkorkst erschienen, weitgehend identisch war.

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