Die Betriebsversammlung 15

Jetzt war er wirklich sauer. Roland Schmidt warf die Maus neben die Tastatur auf den Tisch. Er hatte Tietz in der vergangenen Stunde schon drei Emails geschrieben und ihn mehrfach versucht anzurufen. Auf die Emails hatte er bis jetzt noch keine Antwort bekommen und das Telefon war auf die Zentrale umgeleitet. Dabei fühlte er sich gerade so im Fluss, fühlte, wie die Ideen in ihn einströmten. Er wollte sich mitteilen.  Schmidt wollte seine Erkenntnisse weitergeben und brauchte ein positives, verstärkendes Feedback. Eine eben gewonnene Erkenntnis war die Einsicht, dass flache Hierarchien doch keine so gute Idee seien. Schmidt musste sich gegenüber zugeben, zwar nicht völlig falsch gelegen, doch einige Aspekte außer Acht gelassen zu haben. Es musste Strukturen geben, darauf hätte ihn der Tietz eigentlich aufmerksam machen müssen. Das Internet war schließlich auch hierarchisch aufgebaut und funktionierte ausgezeichnet. Warum sollte er sich daran kein Beispiel nehmen und seine Firma nicht analog zum Internet strukturieren, schließlich war die SCHOW GmbH eine Internetfirma. Der Gedanke war genial, er wollte Tietz mit der Umsetzung beauftragen, doch der rief nicht zurück! Die Formulierung “analog zum Internet” kritzelte er auf einen Zettel. Mit dieser Doppeldeutigkeit des Wortes ‘analog’ im Zusammenhang mit Internet müsste man was machen. Eine herausragend pointierte Formulierung, die ihm da eingefallen war. Da sollte der Olaf Graf was Schönes basteln, schließlich war der Texter. Ist eigentlich sein Job, auf sowas zu kommen. Warum fiel dem nie was Geniales ein, warum musste er als Chef eigentlich alles selbst machen? Und warum meldet der Tietz sich nicht. Warum bezahle ich die Leute hier überhaupt, wenn hier niemand mitdenkt? Roland Schmidts Gefühl, allein gelassen zu sein, war echt. Echt war auch die Wut, die sich an dieses Gefühl anschloss. Entsprechend hart knallte die Maus auf dem Tisch auf.
“Scheiße! Es kann doch nicht sein, dass ich jetzt zum Tietz laufen muss!”, fluchte Roland Schmidt, schlüpfte in seine Birkenstocksandalen und lief zum Tietz.
Wenn er schon sein Büro verlassen musste, dann könnte er auch die große Runde machen, dachte er bei sich. Er nahm sich vor, den längeren Weg zu nehmen, um sich gleich noch einen Überblick zu verschaffen. Früher hatte er das täglich gemacht, einmal am Vormittag Durchmarsch durch die Büros. Diese Gewohnheit hatte er einschlafen lassen, er wusste selbst nicht warum. Er hatte eben die ersten Büros passiert, da fiel ihm die veränderte Atmosphäre auf. Es lag eine gewisse Spannung in der Luft. Seine Angestellten standen zusammen und unterhielten sich statt vor ihren Bildschirmen zu sitzen und zu arbeiten. Und da vorne, Roland Schmidt traute seinen Augen nicht, da saß Olaf Graf auf dem Gang und tippte vor sich hin.
“Warum sitzt du hier mitten auf dem Gang?”, wollte er von Olaf wissen.
“Anweisung vom Tietz. Sei besser so. Sei auch nicht mitten auf dem Gang, sondern in der Nische, meint der.”
“Ach so? Na dann!  Ich hab hier übrigens was für dich. Bau das irgendwo ein, wo es passt.” Roland Schmidt legte einen Notizzettel auf Olafs Schreibtisch. Olaf beugte sich nach vorne und las “analog zum Internet”. Olaf Graf sah zu Roland Schmidt.
“Hab ich geniale Ideen oder hab ich geniale Ideen?” fragte Roland und hob die Arme zur Siegerpose.
“Ja, genial!”, sagte Olaf und dachte so etwas wie ‘Du armes Würstchen’.
Sein weiterer Weg führte Roland Schmidt durch das Foyer. Am Eingang hing wieder der Aushang mit der Einladung zur Betriebsversammlung, den er persönlich am Morgen entfernt hatte. Da erlaubte sich wohl jemand einen allzu blöden Scherz. Roland Schmidt griff zu und riss das Ding herunter, zerknüllte es und warf es in die Ecke.
Kurz darauf kam er in der Personalabteilung an. Zu seinem Erstaunen versammelte sich hier ein Großteil des Personals. Einige beugten sich vor dem Schreibtisch von Sabine Müller über eine Liste und machten Kreuzchen, andere saßen oder standen und schienen auf etwas zu warten.
“Was ist hier los?”, wollte Schmidt von Sabine Müller wissen.
“Wir machen eine Liste wegen der Betriebsversammlung”, war ihre Antwort.
“Die ist doch längst abgeblasen!”
“Davon weiß ich nichts. Tietz will die Liste haben. Und mit einigen will er noch persönlich sprechen. Die da drüben, die warten alle, bis sie endlich dran sind.”
Roland Schmidt wurde rot vor Wut. Er ging zu Tietz’ Büro und riss die Tür auf. Tietz redete gerade in väterlichem Ton auf Miriam ein, die bei Caroline Gottschalk im Büro saß.
“Du erklärst mir sofort, was das hier soll!”, schrie Roland Schmidt Wolfram Tietz an.

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