Nach dem Gespräch mit Sonja nahm sich Tietz einen Moment Zeit, um zu einer vorläufigen Bewertung der Ereignisse zu kommen. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und legte die Füße auf seinen Schreibtisch. Die Dinge waren in Bewegung geraten, was ihn zufriedenstellte. Er ging davon aus, Gottschalk, Bauer und Graf hätten schon die ein oder andere Erschütterung zu spüren bekommen. Es war geradezu komisch, wie die drei dabei halfen seine eigene Position zu festigen. Um die Gottschalk war es ein bisschen schade, dachte er bei sich. Sie sah gut aus und hatte etwas, das ihn anzog.
Von der Analyse der Situation glitt Tietz hinüber ins Tagträumen. So von der erotischen Seite aus betrachtet, hätte es sogar etwas gehabt, der Gottschalk als Kontrahentin gegenüber zu stehen. Es wäre sicher ein ausgesprochen prickelnder Reiz, sie von Zeit zu Zeit in Sitzungen zu provozieren, auf dass sie laut würde und ihn herrisch anschrie. Er hätte sie zugern rasend vor Wut gesehen, wie sie Dinge nach ihm warf, ihn beschimpfte und vielleicht sogar ohrfeigte.
Tietz griff zum Telefon, wählte Herrin Katharinas Nummer und machte einen Termin für den heutigen Abend. Er überlegte, ob die Situation sich in einem Rollenspiel umsetzen lassen würde. Er auf den Knien vor der als Betriebsratsvorsitzende Gottschalk verkleideten Herrin Katharina, die ihn kräftig runter machte und ihm mit dem Betriebsverfassungsgesetz den Hintern versohlte, während er sich an Zofe Jaqueline verging. Er verwarf den Gedanken als zu nah an der Realität. Lieber mittelalterliche Kerkerspiele oder eben Hundehaltung. Das Betriebsverfassungsgesetz war auch zu dünn, um erregende Schmerzen hervorzurufen, selbst in so einer begnadeten Hand wie der von Herrin Katharina. Aber geil machte ihn die Gottschalk eben schon.
Caroline Gottschalk räumte in diesem Moment ihren Schreibtisch auf. Sie wollte Feierabend machen. Die Atmosphäre in ihrem Büro war angespannt, denn die vergangenen Stunden hatten Caroline und Miriam kaum ein Wort gewechselt. Caroline fühlte sich persönlich gekränkt durch den von Miriam erhobenen Vorwurf, sie würde ausschließlich an sich und nicht an die anderen denken. Diese Unterstellung aus dem Mund Miriams tat ihr weh. Gleichzeitig fühlte sie die Notwendigkeit, dieses Gefühl zu überwinden und mit Miriam zu reden, weil nur so der Beweis zu erbringen wäre, wie sehr Miriam falsch läge. In diesem Hin und Her waren Carolines Gedanken nun schon seit geraumer Zeit gefangen, ohne dass es ihr gelungen wäre, diesen Kreislauf des Denkens zu durchbrechen und endlich ein Gespräch zu beginnen. Sie räumte eben ihren Kugelschreiber in die Schreibtischschublade, als Miriam meinte: “Ich würde nochmal gerne mit dir über den Betriebsrat reden.”
Statt über die unerwartete Wendung froh zu sein, fühlte Caroline in sich den Drang aufsteigen, Miriam mit Vorwürfen zu überhäufen, von Gemeinheit und Verrat zu sprechen, um sich dann beleidigt abzuwenden, doch sie unterdrückte diese Regungen. Zu anderen Zeiten war Caroline für Zickigkeiten zu haben, doch war dafür jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.
“Sollen wir auf einen Feierabend-Prosecco ins Loft?”
“Das ist eine gute Idee”, war Miriams Antwort. “In zwanzig Minuten kann ich los. Macht es dir was aus, wenn Julius auch mitkommt?”
“Julius? Der Praktikant aus derer IT? “
“Ja genau.”
“Nein, natürlich nicht.”
Zwanzig Minuten später trafen sich Caroline, der ausnehmend gut aussehenden und sympathische Julius George und Miriam am Firmeneingang, um sich auf den Weg ins Loft zu machen.
Das Loft war eine Bar, die auf die Zielgruppe der in der Werbebranche arbeitenden Angestellten zugeschnitten war. Sowohl der Stil der Musik als auch der Stil der gesamten Einrichtung war von unterkühlter Klarheit, das Licht gedämpft, die Preise gehoben aber nicht übertrieben und die Anzahl an männlichen und weiblichen Singles war ausbalanciert. Wer sich hier aufhielt, bekam zum Getränk das Gefühl mitgeliefert, dazuzugehören, wenn auch nicht genau klar war, zu was.
Miriam, Julius und Caroline grüßten das ein oder andere bekannte Gesicht und nahmen dann in einer Nische platz, in der man ungestört reden konnte.
„Wie geht es denn nun weiter?“, wollte Miriam wissen, während Julius nach ihrer Hand griff. Caroline sah es und war überrascht.