Javier 12

Javier kaute an den Nägeln. Da war er wieder, dieser Druck. Dieser unsägliche Druck, der auf seiner Brust lastete. Der Schmerz, der sich einstellte, wenn er ein Stück Nagel mit den Zähnen aus dem Nagelbett riss, überdeckte für einige Momente das Gefühl des Drucks.
Javier erwartete einen Kunden, der sich die Werke von Daniel Mersiowsky ansehen wollte. Jannis war ein griechischer Bauunternehmer und Sammler, der schon häufiger bei Javier gekauft hatte. Jannis schätzte Javier für seine offene, freundschaftliche Art. Javier schätzte Jannis dagegen nicht, denn er zwang ihn dazu, das zu machen, was Javier die Javier-Show nannte. Er spielte ihm und allen seinen Geschäftspartnern diese offene, freundschaftliche Art vor. Eine Art, die Javier gar nicht empfinden konnte. Das Gefühl der Freundschaft blieb Javier unzugänglich. Dass er spielen musste, dafür hasste er seine Kunden.
Was er aber an Jannis bewunderte, war dessen immenser Reichtum und die Art und Weise wie er den Kunstmarkt manipulierte. Jannis sammelte vor allem Pop-Art in einer Weise, die es ihm erlaubte, den Markt zu kontrollieren. Namhafte Künstler fanden sich in seiner Sammlung, allerdings sah sich Jannis immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, die Künstler wären niemals namhaft geworden, hätte er nicht in der Absicht seinen Reichtum zu mehren zu Beginn der einzelnen Karrieren den Markt leer gekauft, um ihn dann später wieder tröpfchenweise mit den entsprechenden Werken zu horrenden Preisen zu versorgen.
Javier hatte noch eine Stunde Zeit bis zu Jannis‘ Eintreffen. Mit jeder Minute nahm dieser Druck, diese innere Unruhe zu.  Er versuchte sich abzulenken, doch es half nichts. Die innere Unruhe nahm immer weiter zu und wuchs sich aus. Sie wurde zu Angst, dann zu Panik. Valium, Alkohol, Kokain, Heroin, eine der Substanzen hätte jetzt wunderbar geholfen. Am besten alle zusammen. Dann wäre die Panik gewichen, das weiche Gefühl hätte sich eingestellt, das Sanfte wäre über ihn gekommen, es wäre, wie nach Hause zu kommen.
Dieser ganze Entzug war ein Fehler gewesen, schoss es ihm aus einer ganz dunklen Ecke seines Hirns ins Bewusstsein. Sofort tadelte er sich für diesen Gedanken. Er biss sich einen Hautfetzen aus dem Nagelbett. Javier hatte das Gefühl, als müsste er wegrennen. Rennen, so schnell wie es nur geht. Das Problem war nur, das wovor Javier wegrennen wollte, nahm er immer mit. Es war ja er selbst.

 

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