Vor Kurzem habe ich mich in einen Disput verwickeln lassen. Inhaltlich ging es um Russland. Die mir entgegengehaltene These war wieder einmal, dass Russland die Rechte von Schwulen, Lesben, ganz allgemein von LGBT unterdrückt.
Man kann die Reihung der Buchstaben in LGBT sicherlich durch den ein oder anderen ergänzen und das entstandene alphabetische Ensemble zudem noch mit Sternchen oder Herzchen zieren, damit auch die sich angesprochen fühlen können, deren sexuelle Identität mit einem Buchstaben nicht zu erfassen ist. Logozentrismus ist eh scheiße. Diese fundamentale Skepsis gegenüber einer wichtigen Errungenschaft unserer Kultur kann man damit gleichzeitig auch noch zum Ausdruck bringen. Aber ich schweife ab.
Ich jedenfalls hatte wieder mal einen kleinen Disput darüber, wie frei man in Russland seine Homosexualität leben kann. Wir waren zu dritt. Harm, der zwar noch nie in Russland war, aber irgendwie verstanden hat, dass er hierzulande ziemlich verarscht wird, wenn es um Russland und geopolitische Themen geht, Holger von einer Gruppe namens 100% Mensch, der voll auf Linie ist, daher offensichtlich alles glaubt, was ihm irgendwelche westlichen Medien und NGOs unter die Nase halten. Natürlich ist es für ihn jenseits jeder Vorstellung, dass man als Schwuler in Russland irgendwie über die Runden kommen kann. Nur unter tiefer Verleugnung seiner sexuellen Identität und Persönlichkeit, psychisch völlig deformiert und in beständiger Angst lebend. Also ganz ganz schrecklich auf jeden Fall. Und dann war da noch ich, mit eigener Anschauung, vor Ort gewonnen und einer gewissen Sprachkompetenz hinsichtlich des Russischen.
LGBT-Aktivisten könnte man uns alle nennen, auch wenn ich in den letzten Jahren eine deutliche Abneigung gegen das Kürzel LGBT gewonnen habe und inzwischen bei jeder Regenbogenflagge in Misstrauen verfalle, weil ich denke: “Achtung! Augen und Ohren ganz weit auf! Kein Bier, kein Wodka, kein Gin Tonic mehr, klare Birne, denn man will dich vermutlich für irgendwas Fieses benutzen.”
Dass ich da nicht so ganz falsch liege, dafür ist das Projekt 100% Mensch eigentlich das beste Beispiel.
Zu einem recht frühen Zeitpunkt der Diskussion musste ich zugeben, dass ich das Oeuvre von Holger nicht kenne, daher eigentlich auch nichts dazu sagen kann. Allerdings ist das Werk zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch recht überschaubar und man kann sich zügig einarbeiten. Das habe ich dann auch getan.
Die erste Produktion mit der Holger und die Seinen an die Öffentlichkeit getreten sind, ist von 2014. Ganz viele Stars haben ihn und sein Projekt unterstützt. Den Text hat er selbst geschrieben. Voll auf Emotion setzt er, von Pathos durchtränkt ist jede Zeile. Er trägt damit auch die Verantwortung für die Textzeile “wir sind illegal … in Russland”.
Was in dem ganzen Pathos ein bisschen untergeht, sind die Fakten, denn das Doofe daran ist nämlich: wir sind nicht illegal in Russland. Es ist eine glatte Lüge.
Homosexualität ist in Russland nicht verboten, im Hinblick auf die Behandlung von Transsexualität folgt Russland den Regeln zur Geschlechtsangleichung nach den Normen der Weltgesundheitsorganisation. Es ist schlicht falsch, was hier gesungen wird. Es ist sogar ein bisschen mehr noch: Es ist Hetze. Es ist Hetze. Er schwimmt gleichsam auf einem breit erzeugten anti-russischen Sentiment, wodurch der Text einerseits getragen wird, das er andererseits mit füttert.
Er hat dann noch ein bisschen auf die Christen drauf, auf die Moralapostel, ohne zu merken, wie sehr er selbst einer ist, auf die Fundamentalisten (dito). So wird das nix mit der Überwindung der Spaltung der Gesellschaft und der Gesellschaften. Dazu muss man kein Psychologiestudium absolviert haben, um das zu erkennen. Bei 100% Mensch läuft was grundlegend schief.
Jedenfalls: Wenn man heute in der Szene nach den homophobsten Ländern der Erde fragt, kann man sicher sein, Russland wird mit an erster Stelle genannt. Holger mit seiner Band trägt dafür mit die Verantwortung, denn er bedient dieses Klischee mit seinem Schaffen. Dabei war er weder in Russland, spricht auch die Sprache nicht. Seine Quellen sind westliche NGOs. Er verlässt sich blind darauf, dass das, was die von sich geben den Fakten entspricht und ihn nicht instrumentalisieren. Leider falsch. Völlig falsch. Und ganz objektiv betrachtet, ist Russland in Bezug auf Akzeptanz im internationalen Vergleich ziemlich weit vorne. Es gibt weitaus schlimmere Länder. Litauen zum Beispiel.
Aber schlimmer geht ja immer. In einem etwas aktuelleren Beitrag verurteilt 100% Mensch den Rechtspopulismus. Allerdings mit etwas merkwürdigen, dem Gegenstand sehr unangemessenen Mitteln. Das Bild, das der Text zeichnet wird, ist vielsagend. Von Angst in der Nacht ist die Rede, von Misstrauen untereinander und Frust über das Nicht-gehört-Werden. Es fällt unmittelbar auf: Die rhetorischen Mittel sind identisch mit den Mitteln, gegen den das kleine Machwerk versucht zu mobilisieren. Es sind die rhetorischen Mittel des Rechtspopulismus.
Sollte es auch sowas geben wie LGBT-Populismus? Schiere Oberflächlichkeit und Ängste schüren als Mittel um Menschen zu bewegen, politisch in einer bestimmten Weise aktiv zu werden? Ja, klar gibt es das. 100 % Mensch ist genau diesem Populismus verpflichtet.
Natürlich sehe auch ich den Rechtsrutsch. Militarisierung ist wieder groß im Kommen, Grenzen sind wieder groß in Mode, die Verteilungsfrage wird praktisch nicht mehr gestellt, sondern wurde durch die neoliberale Regenbogenfahne ersetzt. 100% Mensch ist daher nicht die Antwort auf den Rechtsrutsch, sondern ein Teil davon. Es ist reine Gegenaufklärung.
Der Ideologie, der auch 100% Mensch auf den Leim geht, liegt die Annahme zugrunde, wenn jeder nach seiner Art leben kann, dann ist Gesellschaft befriedet. Ökonomische Ungleichheit wird bewusst ausgeklammert, sexuelle Identität akzentuiert. Das ist absolut falsch, völliger Blödsinn. Verteilungsgerechtigkeit muss herrschen, dann folgt nahezu unmittelbar mit nur einem Hauch von breiter gesellschaftlicher politischer Bildung der Gleichmut gegenüber dem (sexuellen) Glück der NachbarInnen.
Die grundlegende Annahme des Projekts ist hoch naiv, glaubt es doch, es ginge dem Westen in seiner zunehmenden Aggression gegen Russland und andere Staaten tatsächlich auch oder sogar ganz zentral um schwule Rechte, um die Rechte von LGBT.
100% Mensch versteht nicht, dass diese nur Mittel zum Zweck der Durchsetzung einer neoliberalen Ordnung ist. Ist der Zweck erreicht, wird das Mittel fallen gelassen. Es geht in internationaler Politik nie um Freiheit und Menschenrechte, hat Egon Bahr einmal gesagt und hinzugefügt, es geht immer um Interessen von Staaten. Inzwischen muss man hinzufügen und von westlichen Oligarchen.
Die ganze Lächerlichkeit der politischen Diskussion in Deutschland zeigt sich auch darin, dass man inzwischen zudem noch hinzufügen muss, es geht in internationaler Politik auch nicht um schwule Ehe und Gay Prides. Wer das glaubt, hat einfach den Glockenschlag nicht gehört.
Es geht um Verteilung und Zugang zu Ressourcen, um ökonomische Modelle wer in welcher Weise am erwirtschafteten Wohlstand teilhaben darf. Das ist die aktuelle, große Klammer, die alle politischen Themen miteinander verbindet. Gay rights sind dabei ein Instrument, dem sich westliche NGOs gerne bedienen. Es ist wohlfeil, die angesprochene Gruppe fühlt sich gebauchpinselt und die emanzipatorischen Elemente wurden irgendwann in den Neunzigern entsorgt und haben einer Heulsusenmentalität Platz gemacht, die sich im Werk von 100% Mensch wunderbar niederschlägt.
Die Macher mögen sich in der Tradition von Heine sehen, doch faktisch sind sie Biedermeier in seiner schlimmsten Ausprägung. Es hat weder ein emanzipatorisches noch ein aufgeklärtes noch ein versöhnendes Moment, was hier zur Darbietung kommt. Es bedient lediglich Klischees und züchtet Hass. Es trennt und spaltet. Nix mit Dialektik und so. Aber genau das bräuchte man wieder dringend!
Hat Holger das verstanden? Vermutlich nicht. Er hat sich in der Diskussion irgendwann ausgeklinkt.