Absolut bitter – Meine Antwort auf Jochen Bittner in der Rossiskaya Gazeta

In der Wochenzeitung Die Zeit erschien ein feuielltonistischer Beitrag von Jochen Bittner zum Thema Demokratieverständnis der Deutschen. Die russische Zeitung Rossiskaja Gazeta hat mich gebeten darauf zu antworten. Hier der Text auf Russisch, weiter unten auf Deutsch

Журналист Герт Эван Унгар – о том, почему немцы готовы отказаться от политического права выбирать за тысячу евро.

Статья Йохена Биттнера в немецкой ежедневной газете Die Zeit должна была восприниматься читателями как развлекательная. Рубрика, в которую ее поместили, посвящена статистике, игре с цифрами.Сообщить об опечатке

В статье говорится, что 16 процентов немцев готовы отказаться от своего голоса на предстоящих выборах в бундестаг за 1000 евро. 16 процентов граждан Германии сказали, что возьмут деньги и откажутся от своего демократического права выбирать. 80 процентов респондентов ни при каких обстоятельствах так бы не поступили. Причем, …

weiterlesen auf der Российская газета

Hier mein Text auf Deutsch:

Es sollte vermutlich ein unterhaltsamer Beitrag werden, den Ressortleiter Jochen Bittner in der Rubrik “Dausend Prozent” der Wochenzeitung “Die Zeit” veröffentlichte. In der Rubrik geht es um Statistik, das Spiel mit Zahlen.

16 Prozent der Deutschen würden für 1000 Euro auf ihre Stimme bei der nächsten Bundestagswahl verzichten. 16 Prozent der Deutschen sagen, ich nehme lieber das Geld und verzichte dafür auf Demokratie. 80 Prozent geben an, das niemals tun zu wollen. Bittner macht die Gegenprobe. Deutlich weniger, nämlich nur sieben Prozent, würden für denselben Preis ihre Seele verkaufen. 

An diesen Zahlen entspinnt sich sein Text über die Käuflichkeit der Deutschen, ihren Glauben an die unsterbliche Seele und den Widerspruch, der sich daraus ergibt, seine konkreten demokratischen Rechte verkaufen, aber seine sehr abstrakte Seele behalten zu wollen. Die Seele ist den Deutschen heiliger als die Demokratie, schlussfolgert Bittner und unterschlägt dabei, dass dies offenbar nur für einen Teil der Deutschen zutrifft. Ob diejenigen, die ihre Seele verkaufen würden, zudem mit der Gruppe identisch ist, die ihre Wahlstimme gegen Geld abtreten würden, ist zudem eine ungesicherte Unterstellung.  

Bittner witzelt dann darüber, dass ein Teil der Deutschen glaubt, die Seele sei eine Entität, die sich verkaufen lasse. Daraus lässt sich wiederum schließen: In Deutschland darf man über Glauben und Religion Witze machen. Hinsichtlich LGBT und People of Colour sind derartige Witzeleien dagegen selbstverständlich absolut tabu. Bittner müsste in diesem Fall mit einem massiven Shitstorm rechnen und wäre zur öffentlichen Entschuldigung gezwungen. Dass es aber unter den deutschen Wählern Menschen gibt, die an eine Seele glauben, darüber darf man sich jedoch in Spott ergehen. 

Sind in Deutschland Verschwörung-Erzählungen deshalb auf dem Vormarsch, weil die Deutschen gern an etwas Unbewiesenes glauben, fragt sich Bittner. 

Dazu wiederum muss man wissen, dass in Deutschland alles als Verschwörungs-Erzählung gilt, was nicht mit dem offiziellen Narrativ der Regierung und der großen Medien übereinstimmt. Diese sprechen das Narrativ, also die große Erzählung zu wichtigen Themen, an welche die Deutschen glauben sollen, miteinander ab. In Russland glaubt man mir regelmäßig nicht, wenn ich das erzähle, da dies eine Praxis ist, die man eher in einer Diktatur denn in einer Demokratie erwarten würde. Es ist aber so. Die deutschen Medien sind koordiniert, um das Wort gleichgeschaltet zu vermeiden.

Das war schon während der Corona-Pandemie so. Die Deutschen sollten Angst bekommen, damit sie sich impfen lassen und die zum Teil völlig überzogenen Eindämmung-Maßnahmen mittragen, war die Strategie der Bundesregierung, die von den großen deutschen Medien umgesetzt wurde. Jeder, der sich zu den Maßnahmen kritisch äußerte, wurde von den Medien verunglimpft und diskriminiert. Lautstark und ganz offiziell. Was man in Deutschland mit LGBT-Personen nicht tun darf, mit kritischen Geistern darf man. Man nannte sie ganz offiziell Corona-Leugner, Covidioten, eine Wortschöpfung aus Corona und Idiot, sie waren angeblich alle rechts, sie waren der Blinddarm, den sich die Gesellschaft aus dem Bauch schneiden muss, wie Sarah Bosetti, eine deutsche Schrifstellerin und Moderatorin mit einer eigenen Satire-Sendung im deutschen Fernsehen meinte. Es war eine mediale Schmutzkampagne, wie man sie eigentlich nur in Diktaturen erwartet.  

Und dann noch einmal zurück zur ursprünglichen Frage. Wenn mich jemand fragen würde, ob ich für 1000 Euro auf meine Stimme bei der Bundestagswahl verzichten würde, würde ich sagen “Her mit der Kohle”, und zwar aus einem einfachen Grund: Für mich gibt es gar nichts zu wählen, denn die Parteien in Deutschland sind sich bis zur Unterschiedslosigkeit ähnlich geworden. Ich möchte zum Beispiel, dass Deutschland aus der NATO austritt und einen neutralen Status wie Österreich bekommt. Das konnte man in Deutschland früher wählen, heute nicht mehr. CDU und FDP waren die Parteien der NATO-Fans. Die SPD sah die NATO kritisch, die Grünen wollten als Friedenspartei den Ausstieg aus der NATO, ebenso die Partei Die Linke. Das ist alles vorbei und nicht erst seit dem 24. Februar 2022. Man kann in Deutschland nur Parteien wählen, die unumwunden “ja” zur NATO sagen. Wer das nicht will, sollte lieber die 1000 Euro nehmen, auch wenn die genauso fiktiv sind, wie die Existenz von 72 Geschlechtern, an die manche in Deutschland inzwischen glauben.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Parlamente in den EU-Ländern ohnehin nur noch dazu da sind, Beschlüsse aus Brüssel in nationale Gesetze zu gießen. Die EU reißt immer mehr Macht und Befugnisse an sich und höhlt damit die Souveränität der Nationalstaaten aus. Die Demokratie erodiert in der EU schleichend, dafür kontinuierlich. Die Verordnungen der EU sind bindend, da kann man in Deutschland wählen, wie und was man will – es ändert nichts. 

Aus diesem Grund überrascht mich, dass es nur 16 Prozent sind, die ihr Wahlrecht gegen Bares eintauschen würden. Faktisch sinkt die Wahlbeteiligung in Deutschland kontinuierlich. Dass man bei den Wahlen nämlich immer weniger zu wählen hat, ist inzwischen breiter Konsens. Insbesondere bei den Landtagswahlen sind die Nichtwähler die inzwischen oftmals größte Partei. Dafür gibt es gute Gründe. Der Hintergrund des eigentlich als leicht und unterhaltsam gedachten Textes von Bitter ist daher nämlich vor allem eins: absolut bitter. 

5 Kommentare zu „Absolut bitter – Meine Antwort auf Jochen Bittner in der Rossiskaya Gazeta

  1. Sehr gut zusammengefasst. Ich würde die 1000 Euro auch krallen, denn, wie Du richtig schreibst, zu wählen gibt es nichts in diesem unserem Lande, soweit es die Altparteien betrifft.

  2. Danke. Damit bringen Sie es auf den Punkt. Das Bashing gegen die Kirchen in Deutschland, vor (allem die katholische und orthodoxe) ist manchmal unertragbar, man traut sich kaum was zu sagen, da ist man schnell als pädophiler eingeordnet.

  3. Ich würde weder noch, weil ich die suggestive Fragestellung durchschaue 😉. Es ist wichtig, aus dem eingeengten Spiel der Sklavenhalter auszubrechen.

  4. Es rettet uns kein höh’res Wesen,
    kein Gott, kein Kaiser noch Tribun
    Uns aus dem Elend zu erlösen
    können wir nur selber tun!
    Leeres Wort: des Armen Rechte,
    Leeres Wort: des Reichen Pflicht!
    Unmündig nennt man uns und Knechte,
    duldet die Schmach nun länger nicht!

    Den französischen Urtext verfasse Eugène Pottier, ein Dichter, der am Ende des deutsch-französischen Kriegs von 1870/71 am Aufstand der Pariser Kommune beteiligt war.

Hinterlasse einen Kommentar