Verschiebungen – Wie aus der Regenbogenfahne ein Symbol der Herrschaft wurde

Es geht hier um Verschiebungen. Es geht darum, wie aus einem Symbol für Freiheit, für Vielfalt, Toleranz und Selbstbestimmung ein Symbol imperialer Macht und Gewalt gemacht werden konnte.
Es geht um die Regenbogenfahne.
Und es geht um die Ukraine.

Dort fand am 12.6 eine Gay Pride statt. In der Hauptstadt, in Kiew. Eine schöne Stadt. Die taz vermeldete als Ergebnis der Veranstaltung in einem Kommentar einen Fortschritt. Endlich hatte die Pride gegen den Widerstand von “rechten Dumpfbacken” und dem Klerus, der gegen Homosexuelle hetzt, stattfinden können. Dass der Klerus hetzt, ist sicherlich richtig, dass es rechte Dumpfbacken gibt, sicherlich auch. Die Redaktion der taz ist da auch nicht frei davon.
Jetzt, so geht es sinngemäß in der taz weiter, jetzt  wurde mal gezeigt, wie das mit der Freiheit so funktioniert und wie man das so macht. Und ab hier wird es falsch. Merkwürdig und ganz tief falsch.

Auf der Gay Pride in  Kiew wurden je nach Medienberichten zwischen eintausend und zweitausend Demonstranten von 6500 Sicherheitskräften auf ihrer Wegstrecke von 500 Metern vor Attacken und Gewalt geschützt. Auf diesen 500 Metern transformierte sich  die Regenbogenfahne als Symbol für Freiheit und Vielfalt in ein Symbol herrschaftlicher Macht, ein Symbol der Unterdrückung und eines eurozentrischen Imperialismus.

Der Videoblogger Anatolij Scharij hat diese Transformation in einer kurzen Dokumentation festgehalten. Sie trägt den Titel „Was heute in Kiew passierte“. Die Zwischentitel lauten in deutscher Übersetzung: “Gegner”, “Teilnehmer”, “Rebecca Harms. Seit 11 Jahren kümmert sie sich mehr um die Ukraine als um Deutschland”, “Körper entfernen lassen”, “professioneller Schwätzer”, “Er war dagegen”, “Alles läuft ruhig. Wir sind Europa”, “Der Marsch”, “Ankunft der Hüter der Moral”.

Man kann das Video nicht unkommentiert lassen und man kann es auch nicht unterlassen, auf die besondere Rolle von Rebecca Harms hinzuweisen. Rebecca Harms ist Vorsitzende der Fraktion der Grünen im Europaparlament.

Es ist natürlich kein Zufall, sie hier auf der Kiewer Gay Pride zu sehen. Ihr großes Thema ist tatsächlich die Ukraine und die Maidanbewegung, die sie unterstützt. Freilich beschäftigt sie sich daher auch mit Russland und der Politik der Russischen Föderation, gegen die sie eine tiefe Aversion hegt, die sie nicht müde wird zu äußern.

Entsprechend wurde Rebecca Harms  im Zuge des Sanktions-Ping-Pongs zwischen EU und Russland die Einreise in die Russische Föderation verweigert. (Wir haben angefangen.) Nicht ganz zu Unrecht, denn ihr Treiben dort geht weit über die Äußerung von Kritik hinaus, erfüllt vielmehr den Tatbestand der Hetze und der Anstiftung zu Unruhe.

Aber ebenso, wie sie vorurteilsbeladen mit Russland umgeht, ist sie vorurteilsbeladen im Hinblick auf die Ukraine. Nur eben unter anderen Vorzeichen. Im Hinblick auf die politischen Entwicklungen ist sie in einer gefährlichen Weise naiv und blendet Fakten und Entwicklungen vollständig aus.  

Die Szene, in der ein Gegendemonstrant auf sie zutritt, um ihr Fragen zu stellen, was sie damit beantwortet, dass sie ihn von der Polizei abtransportieren lässt, ist in der Bildersprache treffend. Der Mann wird zu Boden gedrückt, seine Argumente werden nicht gehört, er bekommt keine Antwort. Diese Demonstration von Macht macht aus dem Mann mit Sicherheit keinen glühenden Anhänger europäischer Werte, auch wird die Regenbogenfahne für ihn auf lange Zeit zum Symbol einer erlebten Demütigung werden. Da muss man keine zwölf Semester Psychologie studiert haben, um das zu verstehen.

Man kann das für falsch halten, was er vorbringt. Aber er hat es gewaltfrei vorgebracht. Es verdient eine Antwort. Auf eine Meinungsäußerung mit dem Einsatz von Gewalt zu reagieren, spottet jedem angeblichen Eintreten für Demokratie Hohn. Und diejenige, die hier Gewalt anwendet ist eine hochrangige Euro-Parlamentarierin. Hier verschiebt sich etwas in ganz unguter Weise. Hier wird etwas aufgezwungen. Aufgezwungene Freiheit ist aber keine.   

Und dann sieht man im weiteren Verlauf der Dokumentation noch etwas, vor dem Rebecca Harms und Europa die Augen verschließen. Nach dem letzten Zwischentitel “Ankunft der Hüter der Moral”, da kann man seinen Ohren ruhig trauen. Ja, sie rufen “Sieg Heil” und wenn man den eigenen Ohren weiter traut, hört man “Sieg Heil, Rudolf Heß, Hitlerjugend – SS”. Das ist es, was sie skandieren. Es sind Nazis. Die Existenz einer breiten faschistischen Bewegung in der Ukraine wird bei uns verneint oder schön geredet. Doch sie ist dort massiv und reicht tief hinein in die Strukturen des Staates. Diese Bewegung ist genau so Kind westlicher Politik wie der IS. Sie ist das Ergebnis von Perspektivlosigkeit. 

Die Ukraine wurde durch die Intervention des Westens zu einem gescheiterten Staat mit einer großen, den Staat und die Regierung treibenden faschistischen Bewegung. Wir müssen das sehen und uns dem stellen. Wir müssen begreifen, dass wir das angerichtet haben. Wir müssen verstehen, warum sich dort so viel radikalisiert.

Das große Paradox ist: Es gab vor dem Maidan in Kiew eine funktionierende queere Infrastruktur.  Es gab Bars und Kneipen. Wenn ich den Berichten meiner ukrainischer Freunde Glauben schenken darf, war alles auf einem guten Weg, hin zu mehr Freiheit, langsam aber stetig. Es gab ganz viele funktionierende Infrastrukturen, denn die Ukraine war ein funktionierender Staat.

Diese Infrastruktur wurde durch die vom Westen betriebenen politischen Entwicklungen in der Ukraine zerstört. Die Ukraine ist weit zurückgefallen. Ökonomisch, politisch, freiheitlich. Dass was Harms da tut, wird diese Rückständigkeit manifestieren. Man muss sich nur einen Augenblick hineinversetzen.

Seit dem Maidan ist die Wirtschaft zusammengebrochen. Die Inflation galoppiert, der Staat hat als Bedingung für Kredite des IWF Sozialleistungen und Renten gekürzt. Das ganze neoliberale Programm wird installiert. Die Situation der Bevölkerung verschlechtert sich rapide.

Man muss nicht viel Einfühlungsvermögen mitbringen, um zu verstehen, dass es in den Ohren der Ukrainer wie Hohn klingen muss, wenn es jetzt heißt, die erkämpfte Freiheit sei eine Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung und es gäbe eine Pflicht zur Toleranz, die mit staatlicher Gewalt durchzusetzen sei. Ansonsten nur Nachteile. Mehr als das: Niedergang, Ausverkauf.

Wenn Freiheit nur für eine Gruppe gilt, dann wird Freiheit zu Unrecht. Dann wird aus einem Symbol wie der Regenbogenfahne, einem Symbol das eigentlich für Freiheit, Gleichwertigkeit und Vielfalt stehen möchte, dann wird aus diesem Symbol ein Zeichen der Macht, der Unterdrückung und Gewalt.

Das ist es, was in Kiew bei der Gay Pride passiert ist. Und ich fürchte, die queere Community hat es einfach hingenommen, wenn sie es denn überhaupt bemerkt hat. Wenn ihr etwas an den von ihr postulierten Werten liegt, müsste sie aufstehen und dagegen angehen. Sie müsste aufschreien dagegen, dass in ihrem Namen und mit ihrem Symbol Neo-Kolonialismus und Imperialismus betrieben wird. Sie muss deutlich machen, dass die gemeinte Freiheit etwas anderes ist, als das Frei-Sein von jeder sozialen Sicherheit. Sie muss deutlich machen, dass es Freiheit und Gleichheit eben immer nur für alle gleichzeitig geben kann. 

All das hat die Gay Pride in Kiew nicht getan. Sie  hat daher weder der queeren Community noch der Ukraine einen Gefallen getan. Sie hat niemanden weiter gebracht. Im Gegenteil.