Drag! – Ein Versuch über die Politik der Gegenwart aus der Pop-Kultur heraus

Seitdem sich eine Lesart des Diskriminierungsverbots der Europäischen Menschenrechtskonvention etabliert hat, die auch die sexuelle Orientierung umfasst, sind deutsche Politiker und Journalisten plötzlich Feuer und Flamme für die Verteidigung der Rechte von Schwulen und Lesben weniger im In- vor allem aber im Ausland.
Da sich Politiker wie Gauck und Merkel seit kurzem dem Schutz der Homosexuellen in aller Welt verpflichtet fühlen, wäre es schön, sie würden das nicht nur für andere Länder anmahnen, sondern auch zu Hause das 12. Protokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention aus dem Jahr 2000 endlich ratifizieren. Neben Deutschland hat es nur Österreich und Liechtenstein noch nicht getan. Selbst Polen, auf das der deutsche Qualitätsjournalismus gerne mal wegen seiner angeblichen Homophobie eindrischt, hat das Protokoll unterzeichnet.
Schade, dass Recherche in den transatlantischen Schreibstuben so klein geschrieben wird, man gern mit dem Finger auf andere weist und gar nicht merkt, wie miserabel schlecht es um die Zustände hier bestellt ist.
Es wirkt jedenfalls unglaublich geheuchelt und billig in anderen Ländern lautstark Rechte einzuklagen, die man hierzulande eben auch nicht so ohne weiteres zu gewähren gewillt ist. In Polen, um beim Beispiel zu bleiben, hat sich in den vergangen Jahren viel getan, in Deutschland seit 2000 offensichtlich nichts.
Dennoch frage ich mich, was hat sich in der jüngsten Geschichte Europas geändert, dass aus einem Kontinent, auf dem gegen Homosexuelle eigentlich alle Untaten und Grausamkeiten begangen wurden, die man sich vorstellen kann, dass aus diesem Kontinent der Intoleranz gegenüber nicht traditionellen Lebensweisen plötzlich so ein Hort der Aufgeschlossenheit und der Akzeptanz wurde.
Zumindest auf den ersten Blick, denn diese Toleranz wirkt merkwürdig verordnet. Natürlich gewachsen ist sie in keinem Fall wie Massenproteste in Frankreich und auch Protestbewegungen hierzulande deutlich machen. Die Mittelschicht fühlt sich durch die Andersartigkeit des Lebensstils von insbesondere männlichen Homosexuellen noch immer oder vielleicht auch immer mehr bedroht. Aus meiner Sicht völlig zu unrecht, denn ich würde meinen Lebensstil in keinem Fall gegen die Tristesse des Lebensstils einer Mittelschichtshete eintauschen wollen.
Vielleicht macht aber auch gerade das die Bedrohung aus, die dort gefühlt wird. Ich weiß es letztlich nicht zu sagen, denn es gibt keinen wirklichen Dialog, nur eben seit einigen Jahren die verordnete Toleranz von oben.
Warum aber fühlen sich Politiker dem schwulen Lebenstil näher als der Mittelschicht, die sie wählt? Eine These dazu habe ich. Um sie zu verdeutlichen, ist es notwendig ein wenig auszuholen.
Wir gehen für einen kurzen Moment zurück in das Jahr 2013. Edward Snowden ist es gelungen, aus Hongkong nach Russland zu fliehen. Dort sitzt er am Flughafen fest. Der bolivianische Präsident Evo Morales ist gerade ebenfalls in Russland. Er nimmt dort an einer Konferenz teil. Bolivien lässt verlauten, es könne sich vorstellen, Snowden Asyl zu gewähren. Die Konferenz ist zu Ende, Evo Morales will nach Bolivien zurück, das bolivianische Präsidentenflugzeug hebt ab. Wenige Stunden später werden für einen Moment die Gestelle der geopolitischen Machtverhältnisse sichtbar. Spanien, Frankreich und andere europäische Länder verweigern der Präsidentenmaschine entgegen aller Verträge und Übereinkünfte die Überflugsrechte. Die Maschine wird in Österreich zur Landung gezwungen, zwölf Stunden festgehalten und vermutlich auch durchsucht.
Für einen Moment wird deutlich, was europäische Politik ist. Sie ist drag, Travestie, zelebrierter Fake, eine Darstellung von etwas, das nicht echt ist.
Die Politiker und Beamten der Europäischen Union sind wie auch ihre nationalen Pendants Drags. Sie imitieren etwas, das sie nicht sind. Sie imitieren politische Autonomie, ohne politisch autonom zu sein, sie imitieren, politische Diskurse zu führen, ohne im Ergebnis offen zu sein, sie imitieren, frei in ihrer Entscheidung zu sein, sie imitieren, lediglich dem Volk verpflichtet zu sein. Sie imitieren dies alles, ohne etwas davon tatsächlich zu sein. Sie liefern eine Show, eine Drag-Show. Doch an manchen Stellen wird die Show durchsichtig, unabsichtlich fällt eine Perücke und die Verkleidung wird sichtbar, wie im Falle der Präsidentenmaschine, die auf Geheiß der USA von den europäischen Politik-Drags zur Landung gezwungen wurde. Dieses Beispiel ist so wunderbar, weil es so einfach, so offensichtlich ist. Man könnte noch andere heranziehen, Snowdens Asylantrag in Deutschland, unsere Unterstützung für die Ukraine, die Sanktionen gegen Russland, wobei all diese Vorgänge deutlich komplexer sind. Im Fall des zur Landung gezwungenen Präsidenten Boliviens ist es ganz eindeutig. Washington hat interveniert, Europa hat exekutiert. Für den Bruchteil einer historischen Sekunde wurden die Gestelle der westlichen Politikinszenierung sichtbar. Die Bühnenmechanik eurpäischer Politik hat sich gezeigt, die Inszenierung wurde durchbrochen.
Natürlich entgeht es den Protagonisten der dekadent gewordenen Politik nicht, wie wenig sie die Inszenierung beeinflussen können. Natürlich ist ihnen klar, dass sie nur eine Rolle spielen, wobei der Text von einem Geflecht aus Struktur der Macht festgelegt ist.
Sigmar Gabriel vollzieht dies überdeutlich im Hinblick auf das Freihandelsabkommen TTIP. TTIP wird kommen, ganz gleichgültig, was die Bürger Europas wollen. Es ist längst beschlossen Jede Diskussion bis dahin ist drag, ein So-tun-als-ob. Die Einlassungen Gabriels auf dem World Economic Forum lassen daran wenig Zweifel und wer sie dennoch hat, der wird durch die EU-Kommissarin Cecilia Malmström überrascht werden, die einfach die nationalen Parlamente umgehen möchte. Unsere Politiker folgen einem Drehbuch, sie exekutieren, sie füllen Rollen aus, sie sind Klischee als Entertainment. Sie sind drag.
Drag ist auch die merkelsche Politik gegenüber Russland. Das inszenierte Abkanzeln und die Verweigerung. Das Beharren auf völlig unsinnigen Sanktionen, die Europa und ebenso Russland nur schaden, ohne etwas zu nützen. Gestern wartete die Kanzlerin mit der Idee einer Freihandelszone bis Wladiwostok auf und wurde dafür von der deutschen Presse gelobt. Verschwiegen wurde hierbei, dass Putin diesen Vorschlag schon vor Jahren unterbreitet hatte, dabei aber auf taube Ohren stieß. Auch dies eine Inszenierung, auch dies drag.
Vermutlich kommt daher dieses neue Verständnis gegenüber den Schwulen. Politik ist inzwischen nichts anderes als das, was jedem dahergelaufenen Hetero zum Wort schwul einfällt: eine Dragshow.
Dort wo es herkommt, dort wächst das Rettende auch, möchte ich hier Hölderlin abwandeln. Denn wer kennt sich besser mit Inszenierungen aus als Dragqueens? Wer könnte es besser durchschauen, als eine politisch aktive Dragqueen?
Es ist die vielgescholtene, allerdings auch völlig unterschätzte Conchita Wurst, die hier ansetzt. Ihr Clip Heroes ist ein Werk der Aufklärung, das entgegen allen politischen Inszenierungen eines Ost-West-Konflikts, der sich ganz merkwürdig unter anderem an den Rechten von Schwulen und Lesben entlang hangelt, eine queere Versöhnungsgeste in Richtung Russland schickt.

Das Video zu Heroes ist ein ikonographisches Meisterwerk, das Politik als Maskenspiel entlarvt.
Es sind drei Politikergestalten, die als Putin, der Präsident Ugandas Yoweri Museweni und ein texanischer Republikaner in der Erscheinung eines George Bush welcher Generation auch immer indentifiziert werden können. Sie sind es, die aus dem Himmel ihrer Macht fallen.
Es mag nicht nur westliche Politiker überraschen, dass jetzt eben kein Putin-Bashing einsetzt. Der ganze Clip zeigt ein Bemühen um Annäherung und Verstehen. Er ist aufgeladen mit buddhistischer Ikonographie: die geschlossenen Hände, die das Gute festhalten, die vom Körper abweisenden Handflächen, die das Schlechte zurückweisen. Und schließlich zum Schluss, die sich öffnenden Hände, die in diesem Fall ein christliches Kreuz als Symbol jeglicher Ideologie preisgeben, um das Sein in seiner Vielfalt zu zuzulassen.

Der Clip fordert ein, genau hinzusehen, um unsere Sehgewohnheiten zu befragen, um Inszenierungen zu durchbrechen. Schon die zweite Szene ist absichtsvoll auf Irritation angelegt. Sie wirkt zunächst wie die Nachstellung einer Pietà, die Darstellung der Mutter Gottes mit dem vom Kreuze genommenen Jesus. Doch dann wird deutlich, hier sitzt keine Tranny, die ein Werk der Kunstgeschichte parodiert. Viel zu männlich und markant sind die Züge der sonst so femininen Conchita. Hier sitzt ist ein Mann in einem Kleid, mit einer Perücke, einem graumelierten Bart und einem merkwürdigen Kopfschmuck, einem umgekehrten Nimbus vielleicht, der einen Jungen hält. Es sind Abgründe von Inszenierungen, die hier eben nicht verdeckt, sondern aufgebrochen werden. Die Inszenierung durchbricht sich selbst, verweist so darauf, dass wir immer nur Inszenierungen sehen, nur unter großer aufklärerischer Kraft dringen wir durch zu Welt.
Der Clip setzt dieses Spiel um verborgenes Selbst, Maske und Demaskierung konsequent fort, zeigt eine Welt, in der alle, die Macht ausüben, Masken tragen. Mit dem Fall aus der Macht, aus der Ideologie lösen sich diese Verzerrungen des Selbst auf; Waffen werden zu Staub, Versöhnung wird möglich.
Und es ist sicherlich kein Zufall, dass am Ende des Clips die Begegnung zwischen Conchita Wurst und der Figur stattfindet, die eine Referenz zu Putin zulässt. Nach einem Moment der Übertragung entledigen sie sich ihrer Maske und erkennen sich in ihrem So-Sein an. “We can be so beautiful”.
Thomas Neuwirth zeigt damit, wie politisch durchdrungen die von ihm geschaffene Figur der Conchita Wurst ist. Sie bemüht sich im Gegensatz zur Politik vor allem der westlichen Welt nicht um eine Eskalation von Konflikten mit dem Verweis auf zu verteidigende westliche Werte, ein Begriff der selbst schon längst zu drag geworden ist.
Conchita Wurst bemüht sich vielmehr darum, einen Raum zu stiften, in dem Masken gefahrlos abgelegt werden können, indem Verstehen hergestellt wird.
Die wunderbare Ästhetik, das Schönste daran ist, dass nun ausgerechnet aus der queeren Ecke, die von den politischen Eliten immer wieder als dasjenige ins Feld geführt wurde, an dem sich Menschenrechte wirklich messen lassen müssen, eine politische Ikonographie entfaltet wird, die sich gegen diese Instrumentalisierung nicht nur verweigert, die sie sogar noch entlarvt. Bravo!

6 Kommentare zu „Drag! – Ein Versuch über die Politik der Gegenwart aus der Pop-Kultur heraus

  1. >Attacke statt Appeasement lautet die zynische Parole an allen Fronten. Egal wo, ganz gleich wie verworren die Frontlinien auf den Schlachtfeldern verlaufen. ‘Primitiv-Pazifismus’ wird laut beklagt sobald Kritik an kriegerischen Endlösungen ertönt. Als die Menschenrechte schießen lernten, haben auch Schwule mit getötet. In die Regierungsverantwortung schafften es Grünen-Politikerinnen durch die Lossagung vom Pazifismus. Die Schwulen nahmen das mäßig emanzipatorische Geschenk der Homo-Ehe light an und erhielten im Tausch für Frieden die Gleichstellung in Polizei- und Armeekasernen. Heute lässt die ausgezehrte Friedenstaube ihre letzten Federn, wird an der antisemitischen Querfront von Rattenfängern geradezu zerrupft und vom Bundespräsidenten wehrbereit in den Arsch getreten.> – See more at: http://reiserobby.de/besser-ein-bisschen-als-gar-kein-frieden-fuer-lesben-und-schwule/#sthash.iyBJPjB8.dpuf

  2. Schon eine Weile lese ich sehr interessiert in deinem Blog. Viele deiner – v.a. politischen – Statements gefallen mir ausgesprochen gut. Ich möchte dir danken für diesen Beitrag, denn ehrlich gesagt hätte ich mir sonst wohl niemals ein Video von Conchita angesehen …

    Karsten

  3. Im Medienjargon spricht man von Infotainment, die Inszenierung von Nachrichten als Unterhaltung, der in meinen Augen entscheidende Schritt der Medien in den Abgrund. Inszeniert man Nachrichten als Unterhaltung siegt über kurz oder lang die Hollywood-Dramaturgie über die Wahrheit.
    Aber offenbar ist die Sache reflexiv und damit noch vertrackter. Politik selbst wird zur Inszenierung – wie Du treffend sagst: Zu Drag! Danke für diese gute Beobachtung!

  4. Richtig erkannt und beschrieben. Nur leider haben Sie vergessen zu schreiben, dass wir ALLE eine Rolle spielen, meist im beruflichen, jedoch oft auch persönlichen Umfeld. Wenn dem nicht so wäre, würden die Spieler in der Politik keine Chance haben. Wir lassen uns auch gerne blenden.

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